Bitterböse Familiengeschichte oder Abrechnung
mit dem 20. Jahrhundert?
Von Christiane Thoms
Der polnische Schriftsteller Wojciech Kuczok
wurde 1972 in Chorzów/Oberschlesien geboren und
erhielt 2004 für seine Antibiografie „Dreckskerl“ den wichtigsten polnischen
Literaturpreis NIKE. Stilistisch brillant lässt Kuczok
unauffällig die deutsche und polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts am Rande
der Familientragödie Revue passieren.
Kuczok
hat ein ganzes Jahrhundert in ein Haus gestopft. Der Entwicklungsroman und
zugleich die Jahrhundertbilanz trifft mitten ins Herz des polnischen Nationalismus
und Katholizismus. Der Autor schafft es auf faszinierender Weise, die komplexen
Handlungsstränge aus Vergangenheit und Gegenwart zusammenzuführen und den Leser
und die Leserin ganz dicht an alle Schauplätze zu führen.
Im Mittelpunkt steht irgendwo im
schlesischen Bergbaugebiet das Haus der Familie K., das unversehrt die deutsche
Besatzung überstand: „Der Krieg zermalmte das Haus nicht, das der Vater des
alten K. für seine Familie gebaut hatte, er zermalmte auch ihn persönlich nicht
im Fronttrichter. (...) Der Krieg hatte nur die Betten etwas verknautscht,
zerwühlt, (...) die Pantoffeln zerfetzt, kurz: nach dem Krieg konnte sich der
alte K. nicht ruhig an dem Platz niederlassen, den er sich im Leben
ausgepolstert hatte, das Parterre des Hauses musste verkauft werden. An
Personal, das seine Frau unbedingt haben wollte, war nicht zu denken. (...) Mit
der Zeit begriff er (der alte K. - Anm. Autorin), dass alles, was ihm im Leben
widerfahren war, alles den Toten genommene Glück ihm durch einen Irrtum
zugefallen war, denn er fand keine Freude, alles im Leben entglitt ihm, die
Frau war ihm entglitten, war zänkisch, boshaft und fremd geworden, die Kinder
waren ihm entglitten, er hatte keinerlei Einfluss auf ihre Erziehung.“
Wehmutsvoll, aber mit viel Humor,
erinnert sich der Sohn des alten K. als Betrachtender im ersten Romanteil an
das „Damals“ der guten alten Zeit. Da schläft Opa Alfons mehr als 20 Jahre in
einem selbst gehauenen Eichensarg, um der Familie den Beerdigungsstress zu ersparen.
Dann stirbt er jedoch im Kino, während der Pabst über die Leinwand flimmert. Lolek, ein Onkel des alten K.,
arbeitet über zwei Jahrzehnte als Pfleger in der Psychiatrie und erwirbt dabei
- so die Aussage der Familie - drei Prozent Verrücktheit jährlich. Beim
Ausräumen der Wohnung findet der alte K. ein über Jahre geschriebenes
Manuskript, das die Psyche eines Wahnsinnigen zeigt. Dem Großvater Alfons
gehorchen alle, obwohl niemand je die Kraft seiner Hand gespürt hatte, mit der
er angeblich Bäume ausriss, um aus den Ästen Zahnstocher zu machen.
Doch was bleibt von dieser
Familiengeschichte? Es gab keinerlei Spuren, aber auch keinerlei Traditionen,
denn der Krieg hat in die Geschichte der Familie eingegriffen und geprägt. Aus
dem Einfamilienhaus mit zwei Stockwerken ist durch den Krieg ein geteiltes und
zerrissenes Haus geworden. Aus finanziellen Gründen ist die Familie des alten
K. darauf angewiesen, die Wohnung im ersten Stock an Neue, nicht vornehmer
Herkunft, zu vermieten. Und genau das ist der Familie des alten K. ein Dorn im
Auge.
Von der Kindheit in die Jauche
„Dann“, der zweite Teil des
Buches, ist ganz der zwiespältigen Vater-Sohn-Beziehung gewidmet. Der Krieg
hat, äußerlich betrachtet, die Familie verschont. Aber umso gravierender wirken
die seelischen Schäden des Krieges. Sie stempeln den Vater des alten K. und
seine Kinder zu Verlierern. Den sich vielleicht daraus entwickelnden Hass lässt
der „alte K.“ am „schwächlichen Sohn“ aus und züchtigt sein Kind mit der
Peitsche. Der Wechsel zum Ich-Erzähler hebt hier die schützende Distanz zum
Geschehen auf und lässt den Leser und die Leserin hautnah am Geschehen teilhaben, wenn der
Vater den Sohn als Dreckskerl beschimpft. Man spürt, dass die gedemütigte
Mutter nicht für den Sohn einstehen kann, man lernt die bigotte Tante kennen
und erkennt, dass sich der versoffene Onkel mit seinen Pornofilmen über den
tristen Alltag hinwegtröstet. Nicht nur in der Schule wird der Sohn ausgegrenzt
und abgestoßen, sondern auch in der ganzen Wohnsiedlung wird er Opfer von
Spucke und Gewalt. „Spucke, Auswurf, Schleim, Popel, Rotz. Die Schule war ihr
Hort. Mit Spucke zeichnete man hier Reviere aus, mit Spucke verständigte man
sich, mit Spucke bekannte man Liebe und Verachtung. (…) Ganze acht Jahre mußte ich, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen, die
gesamte Länge der Friedhofsstraße entlanglaufen. Aus der Friedhofsstraße drohte
die Spucke aus den Fenstern und von Balkonen, unter denen ich allzudicht vorbeiging, aber auch und vor allem von hinter
mir, von hinten.“
Der alte K. und väterliche
Patriarch sorgt sich nicht nur um die Sexualität seines Sohnes, sondern hindert
ihn auch an seiner Entfaltung. Er rät ihm, sich für die drei wichtigsten Dinge
im Leben zu interessieren: Autos, Pferde und Frauen. „Ein wahrer Mann sollte
sich ein leistungsfähiges Auto und eine rassige Frau suchen, und wenn er noch
Geld und einen Stall hat, dann sollte er sich noch ein schönes Pferd dazu
kaufen; denk dran, mein Sohn, die Frau muß rassig,
das Pferd schön sein, nicht umgekehrt. Mögest Du im Leben besser wählen als
ich. (...) Der alte K. begann, mich in dieser Stimmbruch-Pickelbrause-Periode
im Zimmer zu besuchen, er machte sozusagen unangekündigte Visiten; zunächst
schlich er in Socken auf den Zehenspitzen zur Tür und lauschte, und dann riss
er mit einem Griff die Tür auf und stürzte ins Zimmer und musterte mich
argwöhnisch. (...) Manchmal dachte ich, ob ich nicht mal wie zufällig, wie ganz
unabsichtlich in diese Stille hinter der Tür, direkt durchs Schlüsselloch etwas
Scharfes stecken sollte, och, wenigstens einen gut gespitzten Bleistift, ich
dachte, ob er nur ins Auge stoßen oder tiefer durch die Augenhöhle bis ins
Gehirn des alten K. eindringen würde, dorthin, wo sein geschwollenes
Moralzentrum lag, und es auslaufen, es aufs frisch gebohnerte Vorzimmerparkett
rinnen lassen würde.“
Die Rachefantasien und
herbeigesehnten Kriege, in denen er seinem Erzeuger dann von der Seite des
Feindes aus entgegentreten könnte, scheinen hier eine logische Wohltat zu sein.
Als Rache am Vater muss man wohl
auch den letzten Teil des Romans „Danach“ verstehen. Mit einem apokalyptischen
Szenario lässt der Sohn nach einem sintflutartigen Regen das Haus und den
Ballast im Jaucheschlamm untergehen. Die Abflussrohre halten dem Druck nicht
mehr stand, die Jauche läuft über und unterspült das eigentliche Fundament des
vom Großvater erbauten Hauses. Alles ihm Verhasste bricht vor seinen Augen
zusammen; der alte K. mit seiner Schwester und seinem Bruder kommen nun in den
Trümmern des eigenen Hauses und der Geschichte ums Leben.
„Lange Zeit bin ich früh schlafen
gegangen. Die Schwester des alten K. hatte mir immer wieder gesagt, dass nur
der Schlaf vor Mitternacht den Organismus wirklich regeneriere, und die Mutter
hatte mich überzeugt, dass nur das vor Mitternacht
Geträumte prophetische Kraft habe. Ich schlief also, versank im Traum, meinem
jetzigen, meinem Lieblingstraum.“ Doch dieser Schlaf ist trügerisch, denn der
Protagonist findet mit ihm keine Befreiung und Erholung, sondern nur Flucht vor
sich selbst. In diesem Schlaf ersteht wieder das Haus der Kindheit, sodass ihn
weder die Ehe, noch die Kinder, Religion oder das Herumvagabundieren von den
Traumata seiner Kindheit befreien kann. Kuczoks Ich bleibt auf der Flucht.
Nicht nur der Inhalt, sondern
Komposition und Sprache heben diesen Roman aus vielen anderen polnischen
Neuerscheinungen heraus. Das mag sicherlich auch daran liegen, dass das Übersetzerinnenduo
Gabriele Leupold und Dorota
Stroińska mit umfangreicher literarischer
Erfahrung bravouröse Arbeit geleistet hat. Der Leser und die Leserin kann die
Einsamkeit des Rächenden hören, wobei Kuczok seinen
Ich-Erzähler beim Jonglieren mit der Sprache niemals sentimental werden lässt.
Kuczok
hat seine Erfahrungen, aber auch eine allgemeine generationstypische
Sozialisation im Polen der 1970er Jahre nachgezeichnet.
Mag das Ausholen zum Gegenschlag ein versöhnlicher Schluss gewesen sein? Kuczok geht es offensichtlich nicht um Versöhnung. Vielmehr möchte er eine Tendenz zeigen, die nichts Gutes in der Zukunft erkennen lässt, auch nicht nach dem Tod des alten K.. Der Sohn kann nicht vergessen und findet selbst im Schlaf keine Ruhe mehr.