Polen und die Stadt Darmstadt

 

Von Udo Kühn

 

Viele deutsche Städte haben vielfältige Kontakte und Verbindungen zu Polen und das seit Jahrzehnten, manchmal sogar seit Jahrhunderten. Dieses Netz lebt und verbindet Bürger und Bürgerinnen in Polen und Deutschland sowie ihre Institutionen so nachhaltig, wie es die Tagespolitik nie erreicht. Ein Beispiel ist die hessische Stadt Darmstadt, an der deutsch-polnische Kontakte auf dieser Ebene skizzenhaft aufgezeigt werden sollen.

 

Die älteste Einrichtung Darmstadts ist die „Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt“. Deren Grundstock ist die Büchersammlung des Landgrafen Georg I., die er bei Regierungsantritt 1567 von Kassel mit nach Darmstadt brachte. Ihr Bestand beträgt inzwischen rund 1,5 Millionen Bücher. Die umfangreiche Bibliothek des "Deutschen Polen-Instituts" mit ca. 50.000 Bänden ist dazu eine ausgezeichnete thematische Ergänzung.

Der „Wiener Kongreß“ (1814/15) mit der „vierten Teilung Polens“ war noch in allgemeiner Erinnerung, als 1830 der Warschauer Aufstand gegen die russische Herrschaft und seine Niederschlagung im September 1831 stattfand. Auch in Südhessen und damit in Darmstadt schlug den Polen „eine Welle von Hilfsbereitschaft entgegen“, die sich rund 150 Jahre später ähnlich wiederholte. Dazwischen lagen aber auch Ereignisse, die leider nicht mehr in ein deutsch-polnisches Freundschaftsbild passen. Sie hatten ihre Ursache im wachsenden Nationalismus, der sich allerdings nicht nur gegen Polen richtete und den kritische Geister bereits früh beschrieben. So stellte der Pfarrer J. Nowak 1911 auf deutscher Seite in seiner „Geschichte Polens - Eine Widerlegung der darüber verbreiteten Unwahrheiten“ in seinem Vorwort fest: „In der letzten Zeit sind so viele Broschüren über die polnische Frage geschrieben worden, dass fast in jedem Monate eine solche erschienen ist. In der überwiegenden Mehrzahl derselben wird die gewaltsame Germanisierung der ehemals polnischen Landesteile empfohlen. Auf der einen Seite wird der Pole als minderwertig dargestellt, der an Intelligenz dem Deutschen bedeutend nachsteht und auf der anderen Seite wird geklagt, dass jener diesen übervorteilt und in der Konkurrenz überbietet. Ja, nicht nur die preußische Regierung soll da helfen, sondern das ganze, gewaltige Deutsche Reich soll gegen die bösen Polen mobil gemacht werden, also über 60 Millionen Deutsche gegen vier Millionen Polen, die in Preußen wohnen.“

Erstes militärisches Opfer der deutschen Aggressionspolitik im Dritten Reich unter Adolf Hitler war Polen. Der Einmarsch deutscher Truppen erfolgte am 1. September 1939 und war der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der „Polenbegeisterung“ von 1831 folgte auch in Darmstadt Kriegsbegeisterung  solange die deutschen Truppen siegreich waren. In den großen Darmstädter Fabriken waren überall Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene eingesetzt. So zum Beispiel auch in der Firma Merck, einer chemisch-pharmazeutischen Fabrik.

Unser Fähnlein des Deutschen Jungvolks (Bann 115) in der Hitler-Jugend in Darmstadt  veranstaltete an einem Samstagnachmittag 1942(?) ein Stadtspiel. Wir Jungen kamen auf die Idee, uns als „Ostarbeiter“  mit einem aufgenähten Sticker  OST zu verkleiden. Im Spielverlauf verfolgten uns prompt Passanten mit dem Ruf „Fangt die Polen!“. Das war für uns noch Spiel. Der traurige Ernstfall kam dann im September 1944, als Darmstadt in Schutt und Asche fiel. Wir waren am sogenannten Westwall bei Merzig und gruben an einem Panzergraben und an Deckungslöchern zur Verteidigung gegen die aus dem Westen anrückenden Allierten. Auf „Heimaturlaub“ vom Westwall in der zerbombten Stadt, sind mir in bleibender Erinnerung die großen Lastwagen der „Organisation Todt (O.T.)“, mit denen in den freigeräumten Straßen Darmstadts die aus den Kellern geholten Leichen verladen und in das Massengrab zum Waldfriedhof transportiert wurden. Auch meine Eltern waren dabei. Diese Arbeit wurde meist von sogenannten Fremd- bzw. Ost-Arbeitern durchgeführt.

Darmstadt nach dem Krieg

War „Darmstadt die Stadt im Walde“ bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch Landeshauptstadt, wurde diese nun Stadt der Verlage und wissenschaftlichen Institute. Von den 30 Instituten, die in einer von der Technischen Universität Darmstadt - gegründet 1877 als Großherzogliche Technische Hochschule - 1998 herausgegebenen Broschüre aufgezählt wurden, gehört das Deutsche Polen-Institut zu den vier jüngsten Darmstädter Instituten.

Der erste Oberbürgermeister von Darmstadt nach 1945 war Dr. Ludwig Metzger (SPD). Er meisterte die schwierige Aufbauphase in einer fast völlig zerstörten Stadt. Anschließend war er von 1954 bis 1969 direkt gewählter Darmstädter Bundestagsabgeordneter in Bonn. In dieser Funktion setzte er sich bereits 1966 für eine Entschädigung von polnischen KZ-Opfern durch die Bundesrepublik Deutschland ein. Eine dementsprechende Resolution von PAX CHRISTI wurde nicht realisiert, da sie „zwar aus humanitären und christlichen Gefühlsgründen legitim, aber politisch 'undurchsetzbar' und finanziell 'kaum tragbar' sei“. Deshalb „hatte (sie) keine Chance“.

Bereits in den 50er Jahren baute Alexander Haas in Darmstadt eine Bücher-Sammlung auf und die „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ wurde 1954 gegründet. Jeder Darmstädter konnte nun, wenn er wollte, sich dort Bücher ausleihen und nachlesen, was mit den Juden geschehen war. 16 Jahre vorher, am Morgen des 10. Novembers 1938 waren die Schaufensterscheiben einiger Geschäfte zerstört, die von jüdischen Inhabern. An der oberen Bleichstraße brannten die Synagoge und die jüdische Schule. Weiter unten in der Bleichstraße brannte die andere Synagoge mit ihren hohen Türmen, die später gesprengt wurden. Die Auslöschung der Juden ging so weit, dass in einem Plan der Stadt Darmstadt aus dieser Zeit noch nicht einmal der Jüdische Friedhof in Bessungen vermerkt wurde, obwohl diese ehrwürdige Stätte der jüdischen Gemeinde Darmstadts bis in das Jahr 1709 zurückgeht. An keiner anderen Stelle war damals in Darmstadt so reichhaltiges Informationsmaterial über die Vernichtungspolitik und die Vernichtungslager im Dritten Reich zu finden wie hier - auch über die deutschen KZs in Polen. Seit 1980 trägt die Bibliothek den Namen ihres Begründers Alexander Haas Bibliothek und ist jetzt neben dem Amerika-Haus in Darmstadt untergebracht.

Als eine bedeutende kulturelle Einrichtung wurde schon 1970 die Chopin-Gesellschaft Darmstadt gegründet. Durch sie wurde die Stadt Darmstadt bereits in den siebziger Jahren ein Begriff in Polen und für die Frederic Chopin-Freunde in aller Welt. Sehr schnell fanden die kulturellen Aktivitäten der Chopin-Gesellschaft Darmstadt wie auch die Stadt selbst journalistische Resonanz in Polen, so 1974 in der deutschsprachigen Ausgabe der Życie Warszawy. Aleksander Rowiński schrieb 1975 einen ausführlichen Bericht in der polnischen Zeitschrift Perspektywy über die „Menschen aus Darmstadt“. Die Seele der Gesellschaft sind die beiden polnischen Pianisten Jacek und Maciej  Lukaszczyk. Ihre erste große Veranstaltung organisierte die Chopin-Gesellschaft zu Darmstadts Polnischer Kulturwoche 1972. 1995 gab es dann ein großes Festkonzert aus Anlass des 25jährigen Bestehens der Chopin-Gesellschaft Darmstadt.

Bereits 1978 besuchten Künstler der Darmstädter Sezession Krakau. Es entstand ein reger Besuchs- und Kulturaustausch mit gegenseitigen Ausstellungen in Krakau und in Darmstadt. Besonders engagierte sich dafür Pit Ludwig. Parallel zu dieser kulturellen Szene in Darmstadt setzte 1981 spontan eine humanitäre Hilfe bundesweit für den polnischen Nachbarn ein, wie es kaum ein anderes Beispiel gibt. Schulen, Vereine, extra dafür neu ins Leben gerufene Komitees, Betriebsbelegschaften, Gewerkschaften, Ortsgruppen von Parteien, aber vor allem auch einzelne Privatpersonen packten Hilfspakete für die polnische Bevölkerung, der es durch eine verfehlte Wirtschaftspolitik miserabel ging. Im Dezember 1981 wurden täglich zehn Waggons mit rund 1500 Hilfspaketen nach Polen abgefertigt. Ungezählt blieben die vielen LKW-Ladungen mit Hilfsgütern. Privatreisende nahmen nach Polen immer Lebensmittel oder andere wichtige Güter, wie medizinische Geräte oder Arzneimittel mit. Aus dieser Zeit stammen Freundschaften zwischen Deutschen und Polen, die oft heute noch gepflegt werden. In dieser Zeit entstand auch eine sich in erster Linie politisch engagierende Deutsch-Polnische Gesellschaft Darmstadt. Mittlerweile existiert sie jedoch nicht mehr.

Politische Schritte einer Annäherung

Eine bedeutende Rolle für das deutsch-polnische Verhältnis spielte der Bensberger Kreis, eine auf Initiative des Publizisten Walter Dirks 1966 gegründete Vereinigung politisch engagierter Katholiken mit dem Ziel, im Sinne einer Demokratisierung aller Lebensbereiche, Reformen in Staat und Gesellschaft, aber auch in der Kirche selbst durchzusetzen. Der Bensberger Kreis gab mehrere Memoranden heraus, in denen er für die deutsch-polnische Aussöhnung und für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze (1968) eintrat.

Ähnlich engagierten sich auch Teile der Evangelischen Kirche in Deutschland schon früh für eine Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen. An vorderer Stelle Helmut Hild, als Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau mit Sitz in Darmstadt. Auf seine und die Initiative des Darmstädter Oberbürgermeisters Heinz Winfried Sabais besuchte zum Beispiel 1972 eine Delegation polnischer Protestanten die Stadt Darmstadt. Auch Helmut Hild selbst besuchte Polen mehrmals und ihm wurde 1974 dort die Ehrendoktorwürde für seine Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung verliehen.

Deutsch-polnische Begegnungen in jüngerer Zeit

Am 13. Dezember 1979 wurde in Bonn der Verein Deutsches Polen-Institut Darmstadt gegründet, dessen Sitz am 11. März 1980 in Darmstadt auf der Mathildenhöhe im Olbrich-Haus eröffnet wurde.

Die Gründung des Deutschen Polen-Instituts geht auf eine Anregung von Karl Dedecius und eine Empfehlung des ersten Deutsch-Polnischen Forums zurück, das 1977 in Bonn tagte. Für Darmstadt organisiert das Deutsche Polen-Institut regelmäßig das „Deutsch-polnische Städtekolloquium“.

Seit das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt besteht, werden ständig Veranstaltungen zum Thema Polen, zur polnischen Literatur sowie verschiedene Ausstellungen angeboten, oft in Kooperation mit anderen städtischen Bildungseinrichtungen, wie der Stadtbücherei. Aber auch schon vorher griff die Stadtbücherei eine Initiative zum Thema „Polen berichtet in deutscher Sprache“ auf (1976). Es handelte sich um ein vielfältiges Angebot von polnischen Zeitschriften und Büchern in deutscher Sprache, direkt aus Polen. Die Stadtbücherei steuerte eine Bücherliste aus ihren eigenen Beständen zum Thema Polen bei.

In ähnlicher Weise konnte und kann sich das Angebot der Volkshochschule Darmstadt mit ihren Veranstaltungen zum deutsch-polnischen Verhältnis und zur Information über Polen - oft in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Polen-Institut - sehen lassen. Seminare, Studienreisen, Polnische Spielfilme, eine neue Veranstaltungsreihe Begegnung mit Polen und noch vieles mehr wechselten sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ab.

1990 feierte die Technische Hochschule Darmstadt zusammen mit der Technischen Universität Warschau ihre seit 10 Jahren - und  damit die älteste der deutsch-polnischen Hochschulpartnerschaften - bestehende Kooperation mit einer Polnischen Kulturwoche. In den neunziger Jahren begann Professor Christof Dipper an der TH Darmstadt mit dem Auschwitz-Projekt, einer Datenbank unterstützt von der Volkswagenstiftung.

Bereits 1982 veranstalteten die IHK-Junioren eine neue Reihe mit dem Titel „Polen und der Osten Europas“. Weitere Vorträge - oft mit kompetenten Referenten aus Polen - folgten. Seit der Einführung der Marktwirtschaft in Polen ist das Interesse an diesem Land noch stärker gewachsen.

Städtepartnerschaft mit Płock

Anläßlich einer Ausstellungseröffnung in Darmstadt mit polnischen Künstlern im September 1985 wird der Darmstädter Oberbürgermeister zitiert: „Günther Metzger erinnerte in seiner Ansprache an die weitgesteckten Verbindungen Darmstadts mit Polen, die Chopin-Tage, das Polen-Institut, und wies darauf hin, dass auch die Technische Hochschule Beziehungen nach Warschau, Krakau und P³ock unterhalte. Darmstadt will, wie der OB erklärte, eine Partnerschaft zu einer polnischen Stadt begründen. Dazu ist P³ock ausersehen. Im Oktober 1987 stimmte der Magistrat der Stadt Darmstadt der Vereinbarung mit der polnischen Stadt P³ock in allen Punkten zu.“ Inzwischen liefen bereits vielfältige Austauschprogramme an, beispielsweise Jugend-, Schüler- und Sportlerbesuche. Nicht nur Kulturprojekte, auch ein Ausbildungsprojekt bei der Darmstädter Firma Wella gehörten dazu. Im Sommer 1988 kamen polnische Jugendliche zu Besuch in das Feriencamp der Stadt Darmstadt in Lindenfels im Odenwald. Im Sommer 1990 besuchte die Arbeiterwohlfahrt die Schwesterstadt in Polen. Natürlich sind Bürger aus P³ock auch Gäste des alljährlich stattfindenden Heinerfestes in Darmstadt. 1992 gab es die P³ocker Tage. 1993 wurde das Haus Darmstadt in P³ock geplant und inzwischen etabliert.