In memoriam Irena Sendler
Von Friedrich Leidinger
Eine kleine Greisin in schwarzem Kleid und mit schwarzem Band im grauen
Haar, winzig, mit einem milden, klugen Gesicht, mit leuchtenden Augen. So hat
die Weltöffentlichkeit sie in Erinnerung, seit sie, die jahrelang vergessen in
einem Pflegeheim der Barmherzigen Brüder im Warschauer Stadtteil Nowe Miasto wohnte, unerwartet
mit Ehrungen überhäuft wurde. Ihr Name war in den polnischen Geschichtsbüchern
nicht anzutreffen. Die Frau, die so viel geleistet hat, damit andere ihr Leben
und ihre Identität bewahren können, war selbst in Vergessenheit geraten. Nach
Jahren des Verschweigens hat sie an ihrem Lebensende Anerkennung gefunden. Am
12. Mai 2008 ist sie in Warschau gestorben.
„Entdeckt“ wurde sie erst durch
Schülerinnen aus Uniontown (Kansas). Die hatten in
einer Illustrierten eine Notiz über eine Frau gelesen, die 2.500 jüdische
Kinder vor dem Holocaust gerettet hätte. Sie gingen mit ihrem Geschichtslehrer
der Sache nach, und so entstanden ein Schulprojekt und ein Theaterstück über Irena Sendler unter dem Titel „Life in a Jar“ (Leben im Einmachglas). Auf einmal sprach man darüber.
Irena
Sendler wurde 1910 in Otwock bei Warschau geboren;
ihr Vater war Arzt und Mitglied der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS).
Als Kind freundete sie sich mit jüdischen Kindern an und lernte Jiddisch. In
den Dreißiger Jahren studierte sie polnische Philologie und war in der PPS
aktiv. Sie arbeitete im Wohlfahrtszentrum für Mutter und Kind, dann als
Gemeindefürsorgerin in der Kommunalen Wohlfahrtspflege in Warschau. Auch unter
der deutschen Besatzung setzte sie ihre Arbeit fort. Nach der Gründung des
Ghettos befanden sich die meisten
jüdischen Armenhilfeempfänger der Wohlfahrtsabteilung hinter den Ghettomauern.
Ab Oktober 1939 durfte die Wohlfahrtsbehörde keine materielle Hilfe mehr an
Juden leisten. Doch bis das Ghetto im November 1940 abgeriegelt wurde, hatte
die Sozialhilfe etwa 3000 Juden anhand der gefälschten Dokumente geholfen.
Unter dem Vorwand der Seuchenbekämpfung schmuggelte Irena
Sendler als Krankenschwester verkleidet zusammen mit 10 Mitarbeiterinnen,
Lebensmittel, Medikamente und Geld in das Ghetto.
Seit 1942 war sie Mitglied der Geheimorganisation
„Żegota“*
(Rat zur Hilfe für Juden). Als klar wurde, dass die Deutschen die
Ermordung aller Bewohner des Ghettos beschlossen hatten, entwickelte Irena Sendler ihren Plan zur Rettung der Kinder. Sie
überzeugte die Eltern gerade der Kleinsten. Mit ihren Helfern holte sie die
Kinder aus dem Ghetto und brachte sie in christlich-polnischen Familien,
Waisenhäusern, Klöstern und verschiedenen Pflege- oder Erziehungsinstitutionen
unter. Dabei nutzte sie immer wieder neue Wege: Die Kinder wurden in
Krankenwagen versteckt, sie erhielten Schlafmittel und wurden in Säcke gesteckt
und als angebliche „Typhusopfer“ aus dem Ghetto heraus getragen; ein Weg führte
durch ein Gerichtsgebäude, das direkt an das Ghetto grenzte, oder durch die
Keller von Häusern, die an beiden Seiten der Mauern standen. Man schmuggelte
die Kinder auch in Säcken und Mülltonnen, in Kisten unter Ziegelsteinen. Um ein
Kind zu retten mussten mindestens 10 Personen zusammenarbeiten. Die Kinder
wurden zuerst an einer geheimen Aufnahmestelle untergebracht und dann an einen
sicheren Ort weitergeleitet. Auf diese Weise gelang es ihr, etwa 2500 jüdische
Kinder aus dem Warschauer Ghetto zu retten - viel mehr, als es auf der
berühmten Schindlers Liste gab. Nach der Niederschlagung des Aufstandes im
Ghetto setzte sie ihre Tätigkeit fort. Sie lauerte an Kanaleingängen und ihr
wohlbekannten Übergängen und fing Kinder, junge und alte Leute, auch Behinderte
ein. Für jeden musste man Kleidung, arische Dokumente, Arbeitskarte und
Unterkunft beschaffen. Jedem Schützling wurde eine Verbindungsfrau oder
Betreuerin zugewiesen. So wurde auch der seit Winter 1943 auf der „arischen“
Seite im Versteck lebende bekannte Pianist Władysław Szpilman von Maria Krasnodębska,
Irenas Kollegin aus der Wohlfahrtsabteilung, über
mehrere Monate mit Essen und Geld versorgt.
Eine verschlüsselte, sorgfältig
auf Klopapier geführte Dokumentation über die Identität der geretteten Kinder
vergrub Irena Sendler in Einmachgläsern im Garten.
Auf diese Weise überdauerten die Informationen den Krieg. Mehrmals waren diese
Unterlagen dramatisch bedroht. Am 20. Oktober 1943 wurde Irena
Sendler von der Gestapo verhaftet. „Das Haus war von der Gestapo umstellt. Ich
habe die Kärtchen, die ganze Kartei also, dem Verbindungsmädchen zugeworfen und
bin an die Tür gegangen. Sie sind hereingestürzt, elf Männer. Die Durchsuchung
hat 3 Stunden gedauert, sie haben den Fußboden abgerissen, Kissen
aufgeschnitten. Die ganze Zeit habe ich weder meine Kollegin noch meine Mutter
angeschaut, denn ich hatte Angst, dass eine von uns unerwünscht reagiert. Wir
wussten, dass die Kartei am wichtigsten ist. Als die Gestapo-Männer mir
befohlen haben, mich anzuziehen und mitzukommen, war ich glücklich, auch wenn
es unwahrscheinlich klingen mag, denn ich wusste, dass die Liste nicht in ihre
Hände geraten war. Ich war ruhig, was die Kinder anging. Mein eigenes Schicksal
war mir unbekannt.“
Irena
Sendler wurde im Pawiak-Gefängnis gefoltert, sie
verriet aber niemanden. Ihre Erschießung wurde befohlen. Auf dem Weg zur
Hinrichtung gelang die Flucht, weil es „Żegota“
gelang, mit einem Lösegeld einen Wachmann zu bestechen. Sie wurde gerettet,
weil man wusste, dass nur sie die verborgenen Verstecke der Kinder kannte. Nachdem
sie gerettet worden war, setzte sie im Untergrund ihre Tätigkeit in der „Żegota“ fort. Über das, was sie bei der Gestapo erlebt
hatte, sprach sie nie.
Nach dem Krieg übermittelte sie
die gesamte Dokumentation dem Sekretär der „Żegota“,
dem späteren Präsidenten des Komitees der Polnischen Juden, Adolf Berman, der
die Liste nach Israel mitnahm, wo sie bis heute in Kopien im Umlauf ist und
vielen verwaisten Kindern half, ihre Verwandten zu finden. Dank dieser Liste
konnte man nach dem Krieg die genaue Zahl der geretteten Kinder und ihre
Personalien bestimmen. Die Mitglieder des Komitees der Juden in Polen nahmen
die Kinder aus den Fürsorgefamilien und gaben sie ihren Verwandten zurück.
Falls sich keine Verwandten meldeten, wurden die Kinder vorläufig in jüdischen
Waisenhäusern untergebracht, und die meisten von ihnen wurden nach Palästina
bzw. Israel geschickt. „Ich hatte mit dem Präsidenten Berman ausgemacht, dass
die Kinder aus der Obhut der Klöster, Waisenhäuser oder Privatpersonen nur ganz
behutsam und taktvoll und nach guter Vorbereitung herausgenommen werden dürfen,
denn für sie war es oft der dritte Akt einer Tragödie in ihrem kurzen Leben.
Der erste Akt - sie wurden von ihren Eltern und Geschwistern getrennt und
verloren ihre Identität. Der zweite Akt - sie wurden aus den geheimen
Fürsorgestellen genommen. Der dritte Teil - nach dem Krieg wurden sie aus den
Pflegeanstalten oder aus den Ersatzfamilien genommen, wo sie inzwischen zuhause
waren. Weil ich damals wieder für die Kommunale Wohlfahrtspflege in Warschau
zuständig war, habe ich meine beste Mitarbeiterin gewählt und ich habe auch
Berman gebeten, unter seinem Personal eine Person zu bestimmen, die Kinder
liebt (...) diese neue Wende im Leben der geretteten Kinder war immer
schwierig, manchmal sogar tragisch..“
Über ihr stilles Heldentum sowie
über die gesamte Tätigkeit von „¿egota“ legte sich
Schweigen. Nach 1945 arbeitete Frau Sendler weiter in der Sozialhilfeabteilung
in Warschau. Sie sorgte für die Gründung von Kinderheimen, Altersheimen und
Kindertagesstätten. Sie sorgte für die „gruzinki“,
junge Prostituierte, die in den Trümmern (gruzy) von
Warschau aktiv waren. Man denunzierte sie, dass sie Mitglieder der Heimatarmee
(Armia Krajowa) versteckte,
sie wurde vom kommunistischen Sicherheitsdienst (UB) verhört. 1949, nach einem
solchen Verhör, hatte sie eine Frühgeburt, ihr Sohn starb nach einigen Wochen.
Irena
Sendler wurde erst 1965 von Yad Vashem
mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. 1983 fuhr sie nach
Jerusalem und pflanzte eine Zeder direkt gegenüber dem Ausgang aus dem
Kinderpavillon des Museums Yad Vashem.
Sie erhielt einen Brief des Papstes Johannes Paul II, das Kommandeurskreuz des
Ordens „Polonia Restituta“
in Anerkennung ihrer Verdienste für die Bewahrung menschlichen Lebens und auch
den „Jan Karski Preis für Zivilcourage“. Für diesen
Preis haben sie zwei Organisationen gemeldet: Die Aktion Kinder des Holocaust
und die Weltföderation der Jüdischen Kinder, die dem Holocaust entkamen, zu der
u.a. Personen, die von ihr aus dem Warschauer Ghetto
gerettet wurden, gehören. Für ihre Kandidatur sprach Norman Conart,
der Geschichtslehrer in Kansas und seine vier Schülerinnen, die ein
Theaterstück über Irena Sendler schrieben. Erst
nachdem sie dank der amerikanischen Schülerinnen berühmt wurde, erhielt sie
2003 aus der Hand des Präsidenten Kwaśniewski die höchste polnische
Auszeichnung - den „Weißen Adler Orden“. Bei der Überreichung des Ordens sagte
sie: „Ich versuche, menschlich zu leben und jedes von mir gerettete jüdische
Kind rechtfertigt mein eigenes Leben“.
Im Februar 2003 schlug die Aktion
„Kinder des Holocaust“, in der sich die ehemaligen Schützlinge der Sendler
zusammengeschlossen haben, Irena Sendler für den
Friedensnobelpreis vor. Diese Kandidatur unterstützten zwei polnische
Nobelpreisträger - Czes³aw Mi³osz und Wis³awa Szymborska.
Mit ihren Taten ist Irena Sendler in den Kernschatten des 20. Jahrhunderts
getreten; sie hat das Böse, das Verbrechen, die Niedertracht ins Licht
gestellt, und sie hat den Tausenden, die sie gerettet hat, und denjenigen, die
ihr dabei geholfen haben, und denen, die erst heute davon erfahren, die so
schwierig zu begründende Hoffnung und den Glauben an die Menschlichkeit
bewahrt. Nie verlangte sie nach Anerkennung ihrer Tätigkeit, im Gegenteil, sie
hat ihre ganze Kraft und Sensibilität aufgebracht, um Menschen zu retten, und
danach auch noch die komplizierten Schicksale der Geretteten zu verstehen: „Ich
weiß, das Leben der geretteten Kinder ist immer sehr kompliziert. Jedes von ihnen
hat seine individuelle Tragödie der Errettung erlebt, dann das Aufwachsen bei
fremden Leuten (...) man hat ihnen Unterkunft, Fürsorge, Ausbildung gegeben.
Aber sie waren nie mehr bei sich zu Hause, mit ihren Eltern, unter den nächsten
Verwandten. Oft trugen sie die schmerzhafte Vorstellung mit sich herum, wären
sie im Ghetto zusammen geblieben, dann wäre vielleicht ein Wunder geschehen und
die Eltern und die Geschwis ter
hätten auch überlebt. In all den Nachkriegsjahren leuchtete in ihren Herzen ein
kleiner Funke der Hoffnung. Trotz der Suche in der ganzen Welt kennen viele von
ihnen ihre Wurzeln bis heute nicht (...) Sie leiden unter der Erinnerung an die
Trennung. Das Drama dieser Zeit traf alle. Sowohl die geretteten Kinder als
auch ihre Mütter, die sie in fremde Hände gaben. Und auch ihre Ersatzmütter,
die diese Kinder aufnahmen und sich entschlossen, sie zu erziehen (…)“.
Wer Irena
Sendler begegnet ist, bewundert nicht nur ihren Mut, ihre Kraft und Ausdauer,
sondern auch ihre ungewöhnliche Sensibilität, Güte und Klugheit. So bedachte
sie auch die Identitätstraumata der nächsten Generationen. Schon 1981 sagte
sie: „Einer der Gründe, die mich dazu veranlasst haben, über meine Erinnerungen
zu sprechen, ist der Wille, der jungen Generation von Juden in der ganzen Welt
mitzuteilen, dass sie sich irren, wenn sie meinen, dass die polnischen Juden
passiv waren, dass sie nicht kämpfend, sondern willenlos dem Tode
entgegengegangen sind. Es ist nicht wahr! Ihr irrt euch, junge Freunde. Könntet
ihr diese Jugend, die damals lebte und arbeitete, sehen, ihr tägliches Ringen
mit dem Tod, der an jeder Ecke lauerte, ihre würdevolle Haltung, Aufopferung
und Aktivität an jedem Tag, Kampf um Brot, um Arznei für sterbende Angehörige,
um geistige Nahrung in Form einer guten Tat oder Lesen eines Buches, so würdet
ihr Eure Meinung ändern! Ihr würdet herrliche Mädchen und Jungen sehen, die mit
Würde alle Folter und Tragödien des Alltags ertrugen. (...) Es ist nicht wahr,
dass die Märtyrer aus dem Ghetto kampflos ihr Leben verloren! Ihr Kampf war,
jeden Tag, jede Stunde, jede Minute in dieser Hölle mehrere Jahre lang
durchzuhalten“
Literaturtipp: Anna Mieszkowska: Die Mutter
der Holocaust-Kinder, DVA, 2006, ISBN 978-3-4210-5912-3, 22,90 €
* „Żegota“ war eine geheime Organisation, die 1942 von Zofia Kossak-Szczucka und Wanda Krahelska-Filipowicz gegründet wurde. Die Organisation wurde von Vertretern verschiedener illegaler Parteien geleitet (BUND, Front der Wiedergeburt Polens, Polnische Sozialistische Partei, Demokratische Partei, Związek Syndikalistów Polskich (Bund Polnischer Syndikalisten)). Ihre wichtigste Aufgabe war Hilfe für Juden. Die Organisation war in regionale Abteilungen gegliedert. In Lemberg leitete die Tätigkeit Władysława Laryssa Homcowa, in Krakau Stanisław Wincenty Dobrowolski, in Warschau Julian Grobelny, Pseudonym „Trojan“.