Das Pulver verschossen?

 

Zur Situation der Linken in Polen

 

Von Holger Politt, Warschau

 

Die sozialdemokratisch orientierte Linke in Polen, so hat es mitunter den Anschein, hat ihr Pulver verschossen. Im Vergleich zur politischen Konkurrenz auf der konservativ-nationalen und auf der wirtschaftsliberalen Seite hat sie augenblicklich den Anschluss an die gesellschaftlichen Grundstimmungen verloren. Verwunderlich, denn bis zum Beitritt zur Europäischen Union gab sie auf der politischen Ebene dem Land entscheidende Prägungen, etwa die geltende Verfassung aus dem Jahre 1997. Doch die Substanz, für die über die Jahre Aleksander Kwaśniewski und Leszek Miller standen, ist aufgebraucht. Die zahlreichen Alternativen dazu auf der linken Seite sind sicherlich interessante Erscheinungen, die aber allesamt einstweilen auszeichnet, dass sie gesellschaftsweit kaum wahrgenommen werden. Nicht wenige Beobachter meinen, die Linke in Polen muss sich neu erfinden.

 

Im Laufe der Jahre verabschiedeten sich die Nachfolger der einstigen Einheitspartei PVAP, zunächst noch verschämt, dann immer konsequenter, von zwei Dingen: Erstens von der Orientierung auf soziale Gerechtigkeit und sozialer Wohlfahrt, die als nachgeordnete Funktionen des allem übergeordneten Wirtschaftswachstums verstanden wurden. Polen - so die tiefe Überzeugung - müsse zunächst alles unternehmen, um den zivilisatorischen Abstand zum Westen zu beseitigen. Erst dann könne nach westlichen Maßstäben verteilt werden. Millers paradoxe Erkenntnis, wonach der Markt immer Recht habe, erklärt sich aus dieser Verengung der Sichtweise.

Während anfangs dem antikommunistisch gestimmten Diskurs, wonach allein die Volksrepublik für die zivilisatorische Lücke zwischen dem eigenen Land und dem hoch entwickelten Westen verantwortlich sei, noch nach Kräften und mit richtigen Argumenten entgegengetreten wurde, gab man sich später auf diesem Gebiet kampflos geschlagen, da geschichtliche Auslegung gegenüber aktuellen Aufgaben zweitrangig sei. Es wurde außerdem Abschied genommen von der eigenen jüngeren Vergangenheit. Man wollte nicht mehr wahrhaben, dass die eigene Formation ohnehin noch für viele Jahre biografisch vor diesem Hintergrund gespiegelt wird. Insbesondere der EU-Beitritt wurde als Trennwand gesehen, hinter der die Zeit der allzu komplizierten Volksrepublik für immer und ohne weiter zu stören zurückgelassen werden konnte. Als Kwaśniewski sich 1997 einverstanden erklärte, die neue Verfassungswirklichkeit „Dritte Republik“ zu nennen, war der Trennungsstrich mehr als symbolisch gezogen. Das Gemeinwesen habe sich zu verstehen in der historischen Kontinuität zur polnisch-litauischen Adelsrepublik, der Ersten Republik, die Ende des 18. Jahrhunderts dreigeteilt wurde und unterging, sowie zu der im November 1918 ins Leben getretenen Zweiten Republik, der im September 1939 durch den Überfall Hitlerdeutschlands und dem anschließenden Einmarsch der Roten Armee in die östlichen Landesteile der Garaus gemacht wurde. Die von 1944 bis 1990 bestehende Volksrepublik hingegen, die zumindest die heutige territoriale Gestalt Polens ermöglichte, verwaiste.

Aus linker Perspektive betrachtet, war, was übrig blieb, nicht mehr viel. Miller erhob 2001 zum heimlichen Programm für die Regierungspartei, dass eine Partei mit über 40% Wählerstimmen Politik für alle Bürger machen müsse und nicht ausschließlich die eigene sich links verstehende Klientel bedienen dürfe. Da von weiter links kaum Konkurrenz drohte, schienen günstige Voraussetzungen zu bestehen, die sogenannte bürgerliche Mitte, den sich Eingang des 21. Jahrhunderts neu formierenden Mittelstand, auf absehbare Zeit erfolgreich für sich gewinnen zu können. Die Überzeugung, die eigentliche Modernisiererpartei im Lande zu sein, machte sich in den eigenen Reihen breit. Es wurde das Märchen einer modernen Sozialdemokratie verbreitet, die in erster Linie für kräftiges Wirtschaftswachstum zu sorgen habe.

Was dann kam, ist schnell erzählt. Den Part der Partei der Modernisierer hat die rechtsliberale PO mittlerweile erfolgreich übernehmen können und ist auf diesem Felde in der Sicht weiter gesellschaftlicher Schichten konkurrenzlos. Wie lange sie diesen Part mit dem radikal wirtschaftsliberalen Konzept eines schlanken Staats und dem Prinzip weitmöglicher Verantwortung des einzelnen Bürgers für sein persönliches und für das gesellschaftliche Leben im heutigen Polen erfolgreich spielen wird, steht auf einem anderen Blatt. Und die soziale Flanke wurde bereits 2005 erfolgreich von der konservativen PiS übernommen, in dem sie dem „liberalen“ Polen ein „solidarisches“ entgegenstellte. Der Versuch, sich in dieser Polarisierung zu profilieren, scheiterte im Herbst 2007 und Frühjahr 2008 mit dem Mitte-Rechts-Bündnis LiD. Da über den Streit um LiD Leszek Miller das Handtuch warf und mit der SLD brach, mit dem Scheitern des sehr ungleichen Bündnisses aber Kwaśniewskis politische Rolle endgültig als beendet angesehen werden darf, müsste sich jener Teil, der nunmehr von der SLD übrig geblieben ist, neu besinnen. Ob das mit einer mittlerweile in die Jahre gekommenen Mitgliedschaft und abnehmenden Zuspruchs in der Bevölkerung zu bewerkstelligen ist, werden die nächsten Monate zeigen.

Nun bliebe freilich an dieser Stelle zu fragen, was denn an Alternativen sichtbar ist. Da viele Beobachter überzeugt sind, dass das Potential der SLD aus unterschiedlichen Gründen mittlerweile erschöpft ist, wäre es für Polens Linke natürlich tragisch, wenn sie den heutigen Stand in der wohl trügerischen Hoffnung auf kommende bessere Zeiten einfach nur hinnehmen würde. Fast alles wird in den kommenden Jahren von ihr selber abhängen. Vielleicht ist auch die Frage, ob die Absichten der beiden derzeit unangefochten rechten Parteien PO und PiS, das Wahlrecht zu ändern und nach britischem Vorbild zum Mehrheitswahlrecht überzugehen, mit politischen Mitteln noch durchkreuzt werden können. Eine Herausforderung für alle linken und sich links verstehenden Kräfte, denn unabhängig von politischer Option, Vergangenheit und einstiger oder jetziger Größe - sie würden alle gemeinsam erstes Opfer eines derart gravierenden Eingriffs in die derzeitige Verfassungswirklichkeit werden.

Der bekannte Politikwissenschaftler Rafał Chwedoruk äußerte sich zur Zukunft der Linken in Polen jüngst wie folgt: "Eine neue linke Formation wird ganz sicher entstehen. Es ist nur die Frage, ob diese Linke aus dem Nichts entstehen wird oder ob die SLD solche Kräfte freimachen kann, die es ihr ermöglichen werden, bis zur Bildung einer neuen Linken auszuharren, um mit dieser zu verschmelzen. Das ist meiner Meinung nach heute die Hauptfrage der gesellschaftlichen Perspektive der Linken." Klare, verständliche Worte. Es lohnt also, sich des Themas in absehbarer Zeit einmal genauer anzunehmen. Auch, weil die SPD-Führung anlässlich eines Besuches in Warschau ihre SLD-Kollegen kürzlich recht nachdrücklich vor der Entwicklung in Deutschland zu warnen versuchte.