Fortbestehender Fortbestand oder die Grenze der Demokratie

 

Petitionsausschuss des Bundestages weist Appell der Gesellschaft ab

 

Von Christoph Koch

 

Deutsche Demokratie. In einer parlamentarischen Demokratie hat das Parlament nicht an letzter Stelle die Aufgabe der Kontrolle der Exekutive. Die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik richtete Ende 2006 einen erneuten Appel an den Deutschen Bundestag, in dem sie das Parlament dazu aufforderte, die vom Bundesverfassungsgericht zu geltendem Recht erhobene Deutschlanddoktrin vom Fortbestand des Deutschen Reiches über den 8. Mai 1945 für obsolet zu erklären und darauf gegründetes Regierungshandeln zu korrigieren.

 

Der Appell der Gesellschaft mutet dem Parlament eigenes Nachdenken, eigene Reflexion der deutschen Nachkriegsgeschichte und der in die Vorgeschichte des Weststaates zurückreichenden rechtlichen Unterlegung ihrer politischen Gestaltung durch die Bundesrepublik und eigenes Erwägen einer möglichen Alternative, d.h. die Wahrnehmung seiner ureigenen Aufgabe am konkreten Beispiel zu. Gefragt war der freie und nach grundgesetzlicher Bestimmung allein seinem Gewissen verpflichtete Parlamentarier. Geantwortet hat der freiheitliche, sein Gewissen einer um erlaubtes Dürfen besorgten Prüfung unterziehende Parlamentarier, der die Zumutung als solche empfand. In Stunden der Bedrängnis richtet sich sein Blick nach oben, von wo ihm einst ein mehr oder minder huldvoller Monarch die Schranken wies. In der Republik muss der Monarch den Posten räumen, doch blieb die Stelle in den deutschen Gebilden des Typs nicht unbesetzt, sodass dem Parlamentarier die Versuchung einer Verhaltensänderung erspart blieb. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, der als Torwächter über den Einlass von Eingaben aus dem außerparlamentarischen Bereich befindet, gründet seinen Bescheid auf eine vorsorglich eingeholte Stellungnahme des Auswärtigen Amtes, dessen politisches Handeln Gegenstand des Appells war. Parlamentarische Demokratie? Obrigkeitsuntertänige, d.h. verfehlte Demokratie.

Die Antwort des Petitionsausschusses, die dem Bundestag die Beendigung des Petitionsverfahrens empfiehlt, macht sich die Ausführungen der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes, die der Gesellschaft seit mehr als drei Jahren durch eigenes Denken delegierende Persönlichkeiten aus dem parlamentarischen Bereich wieder und wieder vorgehalten wird und ihr daher bestens bekannt ist, in vollem Umfang zueigen. Sie stellt fest, dass bezüglich der Aufforderung, die Deutschlanddoktrin vom Fortbestand des Reiches für nicht länger gültig zu erklären, auf Seiten der Gesellschaft insofern ein Missverständnis obwalte, als „Staats- und Völkerrechtswissenschaft und Rechtsprechung deutscher und ausländischer Gerichte stets daran festgehalten“ hätten, „dass Deutschland als Staat den Zusammenbruch nach 1945 überdauert hat und als Völkerrechtssubjekt fortbesteht. Vor allem die Praxis der meisten Staaten einschließlich der Hauptsiegermächte, die die Verantwortung für ,Deutschland als Ganzes' übernahmen“, habe "auf dem Boden dieser Rechtslage" gestanden. Zunächst ist zu konstatieren, dass der Petitionsausschuss ausdrücklich die Auffassung vom Fortbestand des Reiches für die Gegenwart bekräftigt. Darüberhinaus aber ist nachgerade zu hoffen, dass seine Ausführungen nicht auf blanker Unkenntnis, sondern auf berechnetem Kalkül, vulgo: bewusster Lüge, beruhen. Die auswärtige Rechtswissenschaft und Rechtsprechung ist aus unterschiedlichen Gründen in der Frage uneinheitlich, in der bundesdeutschen Rechtswissenschaft ist der gegenteilige Standpunkt bis auf den heutigen Tag präsent, und auf dem Felde der Rechtsprechung hat beispielsweise das Bundesverfassungsgericht Mühe, ein erstes abweichendes Urteil in die später gewünschten Bahnen umzuleiten. Eklatanter noch ist die Unwahrheit im Falle der „Hauptsiegermächte“, für die sich der Bescheid bezeichnenderweise auf „[v]or allem die Praxis“ zurückzieht. Von ihnen hat Frankreich stets unbeirrt und offen, die Sowjetunion ebenso unbeirrt, doch mit dosierterer Offenheit die Auffassung vom Untergang des Reiches am 8.5. bzw. 5.6. 1945 vertreten, während die angelsächsischen Verbündeten ihre nicht minder eindeutige Haltung zwar den „Erfordernissen“ des Kalten Krieges angeschmiegt, der auf der Fortbestandsthese aufsitzenden These der Identität der Bundesrepublik mit dem fortbestehenden Reich jedoch zu wiederholten Malen eine klare Abfuhr erteilt haben. Endlich stellt die auf nationalsozialistischem Boden erwachsene und von nationalsozialistischem und deutschnationalem Geist in die Fundamente bundesdeutschen Selbstverständnisses gegossene Fortbestandsthese keine „Rechtslage“, sondern lediglich einen Rechtsstandpunkt dar, der vor einem internationalen völkerrechtlichen Gremium keinen Bestand hätte und alle Berufung auf rechtliche Hindernisse einer Änderung des gewählten politischen Weges zur Berufung auf selbstgeschaffene Fesseln macht.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.7.1973, stellt den Fortbestand des Deutschen Reiches in nicht näher bestimmten Grenzen über den 8.5.1945 und die (räumlich teilidentische) Identität der Bundesrepublik mit dem Reiche fest, dessen umständehalber ruhender Handlungsfähigkeit kein Staatsorgan der Bundesrepublik vorzugreifen berechtigt ist. Es verbietet somit, Verfügungen über Belange des Reiches, darunter Teile des Reichsgebietes, zu treffen und stellt jeden von der Bundesrepublik abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrag unter den Vorbehalt seiner Revision durch das Reich, sollte dieses zu eigener Handlungsfähigkeit zurückfinden. Aufgrund der fortgeschriebenen Identität der nachvereinigten mit der vorvereinigten Bundesrepublik sind Urteil und Urteilsbegründung bis auf den heutigen Tag geltendes und alle Verfassungsorgane der Bundesrepublik bindendes Recht. Sie verbieten dem vereinten Deutschland den Abschluss eines Grenzvertrags mit Polen, der eine Verfügung über Reichsgebiet trifft. Folgerichtig hat sich das vereinte Deutschland der ihm durch die Abschließende Regelung*  auferlegten Pflicht, die Endgültigkeit seiner Grenze gegenüber Polen anzuerkennen, entzogen. Anstelle eines Anerkennungsvertrages hat es nach dem Vorgang des Warschauer Vertrages von 1970 einen Gewaltverzichtsvertrag abgeschlossen, der allein die Faktizität der bestehenden Grenze „bestätigt“ und unter den gleichen Vorbehalten steht.

Die Antwort des Petitionsausschusses hält dem entgegen, dass die Deutschen mit der „Wiedervereinigung“ die „Einheit und Freiheit Deutschlands“ vollendet haben. Tatsächlich liegt hier ein eklatanter Widerspruch vor. Die in der unwiderrufen fortgeltenden Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts fest- und im deutsch-polnischen Grenzvertrag vom 14. 11.1990 fortgeschriebenen Vorbehalte gegen eine Anerkennung der Unantastbarkeit der bestehenden polnischen Westgrenze sind mit der Unterschrift unter die Abschließende Regelung nicht zu vereinbaren.

Der Appell der Deutsch-Polnischen Gesellschaft hat das Ziel, diesen Widerspruch zu beseitigen, indem er den nach der Verfassung zuständigen Souverän auffordert, die Anerkennung der Endgültigkeit der Grenzen des vereinigten Deutschland aus den Fiktionen und Restriktionen der Rechtssprechung des parlamentarischer Kontrolle enthobenen Verfassungsgerichts zu befreien und zu erklären, dass die Deutschlanddoktrin vom Fortbestand des Deutschen Reiches über den 8. Mai 1945 hinaus samt sämtlichen daran geknüpften rechtlichen und politischen Folgerungen nicht länger die Grundlage für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen bilden. Logische Folgerung einer solchen Entschließung, die die bundesdeutsche Politik von dem Verdacht der Unehrlichkeit, des Hintergehens der Vier Mächte und der Spekulation auf die „historische Chance“ einer Veränderung der widerstrebend hingenommenen Gegebenheiten zu befreien vermöchte, ist der Nachvollzug der Anerkennung der polnischen Westgrenze und der Verzicht auf alle die Hoheit des polnischen Staates über seine Staatsbürger tangierenden grenzüberschreitenden Rechtsakte. Der Hinweis des Petitionsausschusses auf die Zulässigkeit grenzüberschreitenden Steuer- oder Strafrechts ist, wiederum hoffentlich, bewusste Augenwischerei, denn auch dem unbedarftesten Ausschussmitglied, sollte es ein solches geben, dürfte gegenwärtig sein, dass sich die diesbezügliche Forderung des Appells auf die aus den beibehaltenen Art. 16 und 116 des Grundgesetzes abgeleitete und die polnische Personalhoheit verletzende Art der Betreuung der durch den Nachbarschaftvertrag vom 17.6.1991 ins völkerrechtliche Leben gerufenen deutschen Minderheit in Polen bezieht.

Das Schiff der proklamierten grundlegenden Neubestimmung deutsch-polnischer Nachbarschaft, das sich, mit den Lampions einer vermeintlichen deutsch-polnischen Interessengemeinschaft geschmückt und von den subsolanen Winden einer schwierigen polnisch-russischen Vergangenheit getrieben, auf raschem Kurs in offenes Fahrwasser wähnte, sieht sich unversehens durch submarine Widerstände auf der angestammten Stelle festgehalten. Es flottzumachen, bedarf es unverändert der Beseitigung der Klippen, die bundesdeutsche Verweigerung der vorbehaltlosen Anerkennung der aus der Niederlage des Dritten Reiches resultierenden Gegebenheiten einer Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen entgegensetzt. Die Deutsch-Polnische Gesellschaft der Bundesrepublik wird sich weiterhin unbeirrt für ihre Überwindung einsetzen. Ihr Einsatz ist Teil des Bemühens um die Verwirklichung einer Deutschen Republik, die den Namen verdient und, mit sich selbst im Einklang, zu allseitig guter Nachbarschaft imstande ist.

 

 

 

Deutscher Bundestag

Petitionsausschuss

Die Vorsitzende

Pet 3-16-05-06-015436                                                                                                                                                                                                    28.01.2008

 

(...) Der Petitionsausschuss hat zu dem Anliegen der Petentin eine Stellungnahme des Auswärtigen Amtes (AA) eingeholt. Unter Einbeziehung der Ausführungen des AA lässt sich das Ergebnis der parlamentarischen Prüfung wie folgt zusammenfassen:

Der Aufforderung, nach der der Deutsche Bundestag feststellen solle, dass die so genannte Doktrin vom „Fortbestand des Deutschen Reiches über den B. Mai 1945 hinaus obsolet“ sei, liegt offenbar ein Missverständnis zugrunde. Staats- und Völkerrechtswissenschaft und Rechtsprechung deutscher und ausländischer Gerichte haben stets daran festgehalten, dass Deutschland als Staat den Zusammenbruch nach 1945 überdauert hat und als Völkerrechtsubjekt fortbesteht. Vor allem die Praxis der meisten Staaten einschließlich der Hauptsiegermächte, die die Verantwortung für „Deutschland als Ganzes“ übernahmen, stand auf dem Boden dieser Rechtslage.

Mit der Wiedervereinigung haben die Deutschen „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“ (so die durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 geänderte Präambel des Grundgesetzes). Entsprechend wurde der damalige Artikel 23 Grundgesetz, der die verfassungsrechtliche Grundlage für den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bildete, aufgehoben.

Der Petitionsausschuss stellt fest, dass es zwischen Deutschland und Polen seit dem Inkrafttreten des Vertrages Ober die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vorn 12. September 1990, in Kraft seit dem 15. März 1991, und des Vertrages über die Bestätigung der Grenze vorn 14. November 1990, in Kraft seit dem 16. Januar 1992, eine völkerrechtlich eindeutige territoriale Situation gibt. Sie war durch den Warschauer Vertrag von 1970 vorbereitet worden, In Artikel 1 Absatz 2 des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“ wurde ferner bestimmt, dass das vereinigte Deutschband und die Republik Polen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag bestätigen. Dies ist durch den bereits genannten Grenzbestätigungsvertrag vom 14, November 1990 erfolgt. Beiden Verträgen, dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ und dem Grenzbestätigungsvertrag, hat der Deutsche Bundestag gemäß Artikel 59 Absatz 2 Grundgesetz zugestimmt. Darüber hinaus normiert Artikel 1 Absatz 3 des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“, dass das vereinte Deutschland keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten hat und solche auch nicht in Zukunft erheben wird.

Der Ausschuss kommt daher zu dem Ergebnis, dass es einer erneuten „Feststellung“ durch den Deutschen Bundestag über den endgültigen Charakter der Grenze zwischen Deutschland und Polen insoweit nicht bedarf.

Soweit in dem Anliegen der Petition auf die Festlegung der deutsch-polnischen Grenze „auf der Berliner Konferenz der Siegermächte 1945“ abgestellt wird, ist darauf hinzuweisen, dass es in der Frage des Rechtsgrundes und des Zeitpunktes des Gebietserwerbs der ehemals deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie einen bekannten Dissens gibt.

Während nach polnischer Auffassung bereits auf der Potsdamer Konferenz 1945 verbindlich über die Oder-Neiße-Gebiete zugunsten Polens verfügt wurde, ist nach Auffassung der Bundesregierung „die bestehende Grenze das Ergebnis eines sich über vier Jahrzehnte erstreckenden Prozesses, der mit dem Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland seinen Abschluss gefunden hat“.

Da aber die Potsdamer Beschlüsse insgesamt ein abgeschlossenes historisches Kapitel bilden und in der Grenzfrage eine eindeutige völkerrechtliche Situation besteht, besteht kein Anlass, diese Streitfrage - auch nur mittelbar aufzugreifen.

Der Ausschuss weist darauf hin, dass die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und die Verwaltung eines Staates grundsätzlich auf das staatliche Hoheitsgebiet beschränkt sind. Allerdings lässt es das Völkerrecht zu, dass Staaten ihre Gesetze und Gerichtsbarkeit auf Personen, Vermögen und Handlungen außerhalb ihrer Grenzen ausdehnen, wenn ein ausreichender Bezug zu ihrer territorialen oder personalen Hoheitsphäre besteht.

Dies gilt beispielsweise für das Steuerrecht oder das Strafrecht. Insofern entspricht das Anliegen der Petentin nicht dem Völkerrecht, das bei Vorliegen einer ausreichenden Verknüpfung von der Zulässigkeit von Hoheitsakten mit Auslandswirkung ausgeht.

Der Petitionsausschuss kann das Anliegen der Petentin daher nicht unterstützen und empfiehlt, das Petitionsverfahren abzuschließen. (...)