Wenn ein Deutscher zum Polentum konvertiert

 

Mit Peter-Piotr Lachmann spricht in Warschau Teresa Torańska

 

Peter Lachmann (Dichter, Prosaist, Essayist, Dramatiker, Regisseur und Übersetzer) wurde 1935 im deutschen Gleiwitz geboren, studierte Chemie im polnischen Gliwice und dann - nachdem er 1958 nach Deutschland ging - Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaften in Köln und Basel. Er publizierte Lyrik, Prosa und Essays sowohl in Polen als auch in Deutschland und übersetzte ca. 40 Bücher aus dem Polnischen ins Deutsche. 1985 gründete er in Warschau zusammen mit der Schauspielerin Jolanta Lothe das LotheLachmannVideotheaterPoza“, das seine Stücke u.a. in Budapest, Berlin, Edinburgh, Krakau, Paris, Rom zeigte und zahlreiche Auszeichnungen und Preise gewann (u.a. bei dem First Fringe Festival in Edinburgh). Peter Lachmann lebt heute als Piotr Lachmann in Warschau.

 

Wo möchten Sie beigesetzt werden?

Wenn in Warschau, dann in Lothe-Stanis³awskis Familiengruft auf dem Friedhof Stare Pow¹zki. Es gibt dort eine freie Ecke, die ich mir ausersehen habe. Ich werde wenig Platz in Anspruch nehmen, ich werde mich in einer Urne befinden.

Und es wird darauf stehen: Lachmann und...?

Es kann „Dichter“ heißen. Einer ist schon dort (Lachen): „ehemaliger Direktor der Warschauer Gefängnisse, Dichter“, Jolantas Urgroßvater.

Und der Name - Piotr oder Peter?

„Alles verdanke ich der Volksrepublik Polen / sogar den Namen / den nicht eigenen.“ Es können zwei sein: Peter-Piotr, alphabetisch geordnet.

Und chronologisch?

„Er verpuppte sich vor den Augen der Gläubigen der Allerheiligenkirche“, schrieb ich im Gedicht Die Gleiwitzer Zeit, „vom Deutschen zum Polen / dann vom Polen zum Deutschen / und immer wieder so / mit bewundernswerter, ziemlich abscheulicher / Regelmäßigkeit“.

Aber zuvor: „Atemlos lief er durch die umbenannten Straßen / in die umbenannten Kinos / geblendet durch den zivil-militärischen Tod...“

Ich wurde in Gleiwitz geboren, 13 Jahre lang lebte ich in Gliwice, und 1958 ging ich nach Westdeutschland. Nach dem Krieg war ich zehn Jahre alt. Ich wurde vertrieben... halbwegs. Das Wort vertrieben setzen Sie bitte in Anführungszeichen.

Warum?

Es ist unrein. Toxisch. In beiden Sprachen. Man baut politische Karrieren darauf. Man kann es so oft benutzen, wie man es braucht, und kann damit manipulieren, wen man manipulieren möchte. Die Polen drohen den Polen mit dem deutschen Revisionismus, und die heute immer mächtigeren Deutschen versuchen, die Polen wegen der unverschuldeten Schulden zur Rechenschaft zu ziehen. Und sie versuchen dies zu tun, weil die Polen von ihnen politisch abhängig sind. Und viel schwächer: ökonomisch und organisatorisch. Wegen dieses Wortes habe ich mich vor ein paar Wochen in Deutschland während irgendeiner Diskussion zum Thema sog. Vertreibung gestritten. Ich sagte, wenn ich das Wort höre, empört sich der Pole in mir, und der Deutsche versteht.

Was versteht der Deutsche?

Wenn man Kinder und Enkelkinder mitrechnet, leben in Deutschland ein paar Millionen Umsiedler. Sie haben das Gefühl, aus ihrer Heimat vertrieben zu sein. Vermutlich ergeht es genauso den Polen aus den ehemaligen ostpolnischen Gebieten, die auch vertrieben, jedoch als "Repatrianten" etikettiert worden sind. Was sie jedoch unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Polen wissen, warum sie auf den sog. Wiedergewonnenen Gebieten gelandet sind, und die Deutschen entweder nicht wissen oder sich nicht mehr entsinnen - weil sie sich nicht mehr entsinnen wollen -, warum sie diese Gebiete haben verlassen müssen. Das, was während und nach dem Zweiten Weltkrieg passiert war, wurde in Deutschland tabuisiert. Gänzlich. Ich würde wohl auch nichts mehr davon wissen oder mich nicht mehr dessen entsinnen können, wenn nicht zuerst meine Mutter den günstigsten Moment für die Umsiedlung - bevor die Rote Armee einmarschierte - verpasst hätte. Und wenn sie nicht später - als wir mit einem Lkw in das Übergangslager gebracht wurden - mit mir und mit meiner Schwester weggelaufen und nach Gliwice zurückgekehrt wäre. Und, letzten Endes, wenn ich - beim nächsten Ausreiseversuch, als wir schon mit Gepäck auf den Transport vom Roten Kreuz warteten - nicht verunglückte wäre.

Sie haben also die Geschichte des Zweiten Weltkrieges durch Zufall kennengelernt?

Durch „ein schelmisches und Streiche spielendes Gespenst“ - erlaube ich mir nach E.T.A. Hoffmann zu wiederholen, der Künstler und preußischer Rat war und vor 200 Jahren aus Posen nach P³ock strafversetzt wurde. Und ich? Als ich mit meinen Kameraden am Vortag der Ausreise Ritter und Räuber spielte in den Trümmern des Hauses Oberschlesien - vor dem Kriege Luxushotel -, fiel ich samt dem Fahrstuhl zwei Stockwerke hinunter. Ich weiß nicht, ob dies ein Glück oder ein Unglück für mich war.

Ein Glück. Für uns.

Sind Sie sich da sicher?

Ich bin es.

Ich bin in den mitteleuropäischen Trichter hineingefallen und wurde zerrieben.

Zu Asche?

Geistig ja. Ganz sicher.

Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Man schreibt das Jahr 1945, Peter verschwindet, es gibt ihn nicht mehr, er wird zum Piotr. Dieses Umtaufen geschieht automatisch. Mein Doppelgänger taucht in der polnischen Schule auf, er ist zehn Jahre alt. Die Lehrerin bittet ihn, sein Geburtsdatum zu nennen. Ein tragikomisches Moment: ich spreche kein Polnisch.

Meine Mutter dachte überhaupt nicht daran, dass sie mich - indem sie mich zur polnischen Schule schickte - einer Demütigung aussetzte. Schlimmer noch, dem Verlust der ursprünglichen Identität.

Hatte sie eine andere Wahl?

Nein. Die Deutschen sind ja auch keine Polen, sie hätten sich keine Untergrundunterrichtsgruppen für ihre Kinder einfallen lassen können.

Die polnischen Kameraden, fantastische Jungs, fangen damit an, mir zuzuflüstern. Ich fühle mich schrecklich erniedrigt und sprachlich - um eine Metapher zu benutzen - vergewaltigt. Ich stammle etwas ungeschickt, zerbreche mir die Zunge. Ich, ein Primus auf der deutschen Schule! Fasziniert von den Nibelungen, von der deutschen Grammatik, der deutschen Literatur.

Heute vergleiche ich diese Bedrängnis mit der Vergewaltigung eines Mädchens; als erwachsene Frau fühlte sie sich am besten als Prostituierte.

Ich wurde in die vierte Klasse aufgenommen, es war förmlich ein Abenteuer wie aus der Feder von Witold Gombrowicz [Autor von grotesk-satirischen Werken]. Ich saß im Unterricht wie im Theater und tat so, als ob ich den Inhalt des Spektakels, an dem ich beteiligt war, verstände. Das Nicht-Verstehen überspielte ich und machte dabei ein schlaues Gesicht. Und mein Schulbankkollege Adam - später auch Freund -, der seit 1968 in London lebt, brachte mir zeichnend, da er schnell begriff, dass meine Polnischkenntnisse sehr gering waren, die jüngste Geschichte Polens bei: die Zerstörung einer Stadt und ihrer Häuser, eins nach dem anderen, Straße nach Straße in Brand gesetzt durch die Wehrmachtssoldaten.

Durch ihre Landsleute?

Ja, durch die Deutschen. Er versuchte mir zu erzählen, was diese meine Landsleute in Warschau getan hatten. Mit Bilderschrift. Wie sie den Aufstand niedergeschlagen hatten. Der Warschauer Aufstand in heimlich während der Unterrichtsstunde gezeichneten Comics.

Adam war damals hier in Warschau, er sah all das und floh mit seinen Eltern aus der brennenden Stadt.

Die Straße, in der ich heute wohne, blieb verschont. In all den Gebäuden, die man aus meinem Fenster sieht - was für ein hinterlistiges Schicksal -, schauen Sie bitte hinaus, war der deutsche Stab.

Wollen Sie diese Gebäude sehen?!

Ja, natürlich. Wie könnte ich sie nicht sehen? Im dritten Stock meines Hauses versteckte sich damals W³adys³aw Szpilman [Titelfigur in Roman Polanskis Film Der Pianist - d. Übers.], ich habe ihn später kennengelernt und mich mit ihm angefreundet. Er hatte hier für den „guten Deutschen“, den Hauptmann Wilm Hosenfeld, die Nocturne von Chopin gespielt.

Warschau ist ein Schatten der Stadt aus der Vorkriegszeit. Man sagt, es war schön, vielleicht ist es ein Mythos, ich weiß es nicht. Wenn ich hier die Straßen entlang gehe, spüre ich diesen Schatten. Die Deutschen wissen gar nichts über die Geschichte und die Kultur dieser Stadt.

Wie ist das möglich?

Sie wissen nichts. Für sie existiert diese Stadt nicht. Im wahrsten Sinne des Wortes: sie existiert nicht. Warschau interessiert sie nicht. Es hat sie nie interessiert.

Weil sie es aus der Karte Europas ausradieren wollten?

Früher dachte ich auch, es handle sich vielleicht um eine Verdrängung auf Grund einer schlechten Erinnerung. Aber nein. Die Realität ist schlimmer: die Deutschen wissen überhaupt nicht, dass diese Stadt ausradiert werden sollte. Sie hätten auch nicht gemerkt, dass Warschau ausradiert ist. Und die - na gut, vielleicht einige von denen, die so tun, als ob sie etwas über Warschau wüssten, bringen den Warschauer Aufstand mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto durcheinander. Und das ist für mich am meisten empörend, skandalös, unzulässig. Das muss eines Tages zum Vorschein treten, vielleicht auf eine unangenehme Weise als Ergebnis der europäischen Integration, wenn man damit anfängt, sich gegenseitig im großen Stil Rechnungen auszustellen.

Wann?!

Wenn die „Vertriebenen“ nach ihren im Osten d.h. im Westen Polens hinterlassenen Häusern verlangen, und wenn die Polen - aus Vergeltung - z.B. die Kosten für den Wiederaufbau von Warschau zusammenrechnen. Manche tun es angeblich bereits und werden den Deutschen eine Rechnung über die Verluste ausstellen. Es handelt sich um Milliarden von Euro! Sie sollen es tun, die Deutschen sollten endlich verstehen, was für ein Theater der Grausamkeit sie hier im 20. Jahrhundert inszeniert haben. Es sollte endlich zu einer Diskussion über Schuld und Strafe kommen.

Es gab sie schon.

Es gab sie nicht. Für mich war diese Sühneaktion, die die jungen Deutschen in den sechziger Jahren initiierten, eine Art geschmackloses Psychodrama. Oder Masochismus. Ich verspottete sie. Völlig unschuldige Menschen kamen nach Auschwitz, arbeiteten, räumten auf, organisierten irgendwelche Workshops und zeigten Reue, nicht für sich selbst, weil diejenigen, die sie hätten zeigen sollen, schwiegen. Für diese blieb Polen ein schwarzes Loch zwischen Deutschland und Russland. Ein verschwiegenes Loch.

Dreißig Jahre lang versuchte ich, dieses Loch zu füllen. Ich sprach, ich schrieb: Polen kann für uns Deutsche kein gewöhnlicher Nachbar sein. Zu Polen müssen wir ein besonderes Verhältnis haben, wie zu einer Familie, die man verletzte, indem man ihren Vater oder Sohn tötete. Nichts hat das gebracht!

Heute freut mich nur eins: mein Vater ist damals nicht dabei gewesen.

Denken Sie darüber nach?!

Ja. Gott sei dank, er war nicht dabei. Ich habe Beweise dafür. Der Zug, mit dem er und seine Einheit aus Frankreich gen Osten fuhren, stand in Warschau auf einem Nebengleis.

War er Soldat?

Bei der Wehrmacht. Zum Glück nur ein Soldat, der im Jahre 1941 einberufen wurde. Er gehörte keiner Partei an, er brauchte nicht der Naziideologie beizustimmen. Als ein bekannter Fußballer - ein Ligamannschaftsstar - hatte er Privilegien. In Gleiwitz besaß er einen Sportwarenladen. Mein Vater ist in Warschau aus diesem Zug nicht ausgestiegen.

Und deswegen ist er gefallen. Dies ist ein Paradox.

In Stalingrad war er nicht gefallen, sondern vermisst. Er hatte sich im russischen Nebel aufgelöst. Für mich wurde er zum Trugbild. Meine Mutter bekam die Nachricht, er sei nicht in die Gefangenschaft geraten.

Hat sie gewartet?

Wir alle haben gewartet. Ich von Jahr zu Jahr immer weniger. Bei uns zu Hause haben wir das, was die Deutschen Trauerarbeit nennen, nicht erlebt. Dies ist eine schöne Bezeichnung.

Eine kluge Bezeichnung.

Ich weiß nicht, unübersetzbar ins Polnische.

Ich glaube, er war verstorben. Und ich, um den ersten Schmerz der Erniedrigung in der Schule, diesen damals für mich schändlichen Rückschlag zu überwinden, fasste den Beschluss, richtig Polnisch zu erlernen. Und es geschah ein Wunder. Nach vier grammatischen Fällen der deutschen Sprache wurde ich mit sieben Fällen beschenkt. Ich war dadurch erregt - vor allem durch den Vokativ. Er hat mich bezaubert. Im Gedicht Kurs für Anfänger schrieb ich: „Die Sprachen legten sich auf sein Gesicht / wie Gasmasken an / schwer abzunehmen / er erstickte mal in der einen mal in der anderen / und träumte von einer universalen, ihn nicht einschränkenden Bildersprache / die Atem spenden würde“.

Ist Zweisprachigkeit eine Belastung?

Letztens hatte ich ein interessantes Erlebnis. Ich war in einem Zug aus Warschau nach Berlin unterwegs, in Posen stieg ein elfjähriger Junge dazu und fing an, mich anzuquatschen. Auf Deutsch, die ganze Zeit auf Deutsch. Und plötzlich, als wir über die Grenze fuhren und dann in Deutschland waren, wechselte er ins Polnische. Ich sprach zu ihm Deutsch, und er antwortete mir auf Polnisch, ohne sich dabei bewusst zu sein, welche Sprache er gerade sprach. Ich fragte ihn nach seiner Mutter. Sie war Polin und sprach kein Deutsch, sie sollte ihn vom Bahnhof in Berlin abholen. Dann habe ich es verstanden: psychisch war er schon auf das Treffen mit ihr vorbereitet, er wartete darauf. Mir erging es scheinbar ähnlich, trotzdem ganz unterschiedlich. Meine Mutter sprach kein Polnisch, und wenn ich zurück nach Hause kam, wechselte ich automatisch ins Deutsche. Aber der grundlegende Unterschied zwischen mir und dem Jungen liegt darin, dass ich meine durch Geburt erworbene deutsche Identität habe verheimlichen müssen. Ich habe sie in der Schule und auf der Straße, sogar im eigenen Kopf verbergen müssen. Zugeben, dass man Deutscher ist, war in Polen erst gefährlich, dann unangebracht, und noch später ungeschickt. Unter dem Zwang der Verheimlichung kam ich auf die Idee, in zwei Gestalten aufzutreten.

Hat Ihre Mutter das nicht gemerkt?

Nein. Sie war nicht besonders an meiner Ausbildung interessiert.

Und an Ihrer Identität?

Meine deutsche Identität funktionierte vor ihr makellos. Das Nachkriegsleben der deutschen Frauen war hart. Meine Mutter hat, um uns den Unterhalt zu sichern, schwere körperliche Arbeit geleistet. In Polen bekam sie eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis. Ihr kam es nie in den Sinn, dass ich mich in zwei Welten bewegte und oft nicht mehr wusste, welche die wahre für mich war und dass ich in einem Theater fremder Sprache, fremder Gesten, fremder Symbole lebte. In einem Theater, in dem das Bühnenbild gewechselt hatte und dessen Metamorphose so stark war, dass ich mich ihr fügte. Meine Mutter merkte wohl auch nicht, dass meine Muttersprache sich auf das Küchen- und Hausgeplauder beschränkte; ich musste selbst dafür sorgen, meinen Sprachhorizont zu erweitern. Ich bildete mich bei einem deutschen Kameraden weiter, der auch nicht „ordentlich vertrieben“ wurde und eine geniale Büchersammlung von deutschen Enzyklopädien, Alben mit Malerei, klassischer Literatur zu Hause hatte. Ich ging zu ihm zum Untergrund (Lachen) unterricht. Zum Einzelunterricht, weil er diese Bücher nicht las.

Zwei- oder Dreisprachigkeit ist also von Vorteil, wenn man sie unter normalen Umständen während des Friedens erfährt, wenn sie dazu dient, die Welt kennenzulernen, sich kulturell zu bereichern. Und sie ist vom Nachteil, wenn sie einen dazu zwingt, die unabwendbaren Entscheidungen zu treffen, die Masken anzulegen, unter denen sich Doppelgänger verstecken, die zu einer Verständigung zu gelangen versuchen, obwohl zwischen ihnen ein unüberbrückbarer Abgrund „an der offenen Grenze der Zähne“ klafft.

Glücklich sind diese Kinder, die, wenn sie in die Welt losziehen, ihre Heimat zusammen mit anderen Sachen in ihren Reisekoffer packen können.

War Ihr Koffer leer?

Er hatte einen Doppelboden.

Das heißt...

Zu Hause war ich Peter der Deutsche, in der Schule war ich Piotr.

Pole?

Nein. Ich war doppelt, halbiert, auseinandergerissen zwischen dem polnischen „ja“ [d.h.: „ich“] und dem deutschen „ich“. Stets darauf bedacht, das deutsche „ich“ mit dem polnischen „ich“ [d.h.: „ihr“ in Funktion des Possessivpronomens] nicht durcheinanderzubringen.

Wegen Ihres Vaters?

Nein, nein. Über ihn hat man zu Hause nicht gesprochen. Das Thema war tabu.

Haben Sie nicht nach ihm gefragt?

Nein. Er war für mich ein Rätsel. Er existierte in mir als Angst des kleinen Hamletleins, das mit einer Schuld belastet war, und vor dem der Geist des Vaters plötzlich erscheinen konnte, um nach einer Tat zu verlangen, die die Vergeltung für seinen Tod und die Rache für die Schmach der Mutter gewesen wäre.

In seinen letzten Briefen schrieb er, dass er von Kräften kommt, dass es immer schlechter um ihn steht.

Gibt es Briefe?

Manche sind sogar sehr lang. Ich erfuhr von ihnen vor ein paar Jahren, nach dem Tod meiner Mutter. Meine Schwester, bei der unsere Mutter in den letzten Jahren wohnte, übergab mir ein kleines Bündel und sagte: "Wenn du das nicht mitnimmst, werfe ich es weg."

Hat sie diese Briefe gelesen?

Ich glaube nicht. Sie hat die ganze Vergangenheit - den Vater, den Krieg, die Zeit in Polen - aus ihrer Erinnerung ausradiert. Und vor knapp zwanzig Jahren, als ich nach Polen zurückkehrte, auch mich.

Weil Sie nach Polen gingen?

Höchstwahrscheinlich ja. Sie und Mutter waren durch die Tatsache, dass ich nach 30 Jahren in Deutschland wieder in Polen war, sehr berührt. Mutter gab sich jedoch Mühe, mich zu verstehen, meine Schwester nicht. Ich vermute, dass sie mich irgendwie um diese Entscheidung beneidet. Sie ist jünger. Nach dem Kriege war sie fünf Jahre alt, und als sie Polen verließ, war sie achtzehn; in drei Monaten hätte sie das Abitur in Polen gemacht.

Diese Briefe haben mich umgehauen. Ich zeige sie Ihnen. Mutter hat sie wohl vor uns versteckt. Sie hat ihre Existenz nie erwähnt. Ich habe einen Leichnam berührt, der während der Lektüre lebendig wurde.

Die ersten Briefe wurden mit Tinte geschrieben. Er hatte noch Tinte. Später schrieb er mit Bleistift. Und auf immer schlechterem Papier. Die Briefe wurden immer wahnsinniger.

Man schreibt das zweite Halbjahr 1942, er fährt mit seiner Einheit gen Osten: über Warschau, Baranowicze, Minsk. Die Unsicherheit, wohin man geschickt wird, wird immer größer: „In einer Stunde fällt die Entscheidung. Die letzte Möglichkeit, noch abzubiegen. Ich bin ganz gespannt.“ Sie hatten höllische Angst vor diesem Stalingrad.

„Ich lerne russische Wörter. Es macht mir viel Spaß. Ich kann schon ein paar Bro-cken.“ Er zählt russische Wörter, die er gelernt hat, auf deutsch: halt, essen, zahlen. Und „Hände hoch“. Ein schönes (Lachen) Abc-Buch, nicht wahr?

Sie kommen in Stalingrad an. Alle warten diszipliniert in der Warteschlange auf die Einquartierung. Rundum gibt es nur Trümmer, das Wort „Quartier“ klingt für ihn absurd. Er spottet darüber und beschreibt, was er getan hat: Er hat sich von seinem Trupp entfernt und damit angefangen, selbst nach irgendeinem Loch zum Schlafen zu suchen. Ohne Erlaubnis! Aus deutscher Sicht war dies unvorstellbar.

Ich hätte genauso gehandelt. Ich hätte mich auch ohne Erlaubnis entfernt... Nein, nein, ich wäre überhaupt nicht hingefahren. Ich hasse Militär, Disziplin.

Er hat irgendein Loch gefunden, es war noch warm nach den Russen. Und als er am Morgen zu seinem Trupp zurückkam, sah er seine Kameraden, die immer noch auf die Einquartierung warteten. Er war mit sich selbst, mit seiner Insubordination, sehr zufrieden.

In späteren Briefen steht über Russland: „Ein erschreckendes, trostloses Flachland.“ Er erlitt dort einen Zivilisationsschock. Schmutz - stets schrieb er über Schmutz und Armut. Und über die Russen. Man konnte sie aus ihren Verstecken nicht verjagen. „Wir werfen tonnenweise Bomben aus unseren wunderbaren Stukas ab, und es macht ihnen nichts aus. Sie ignorieren sie und greifen weiter an. Ich sehe ihre Posten, das sind keine Menschen, das sind Teufel!“

Anscheinend, wenn sich der Mensch in einer extremen Lage befindet, muss er - um sie sich selber irgendwie zu erklären - nach irrationalen Argumenten greifen. Er hat sogar die russischen Kinder nicht verschont.

Was schrieb er?

Kleine Teufel. Teufelssamen. Und er fühlte sich als Teil eines größeren Ganzen, einer Schicksalsgemeinschaft, eines gemeinsamen sterbenden Organismus. Am Sinn des Krieges hat er nicht gezweifelt.

Bis zum Ende?

Nie. Das ist sehr deutsch: Es gibt eine Aufgabe - nicht Befehl -, und man geht, diese Aufgabe zu erfüllen. Wie ein Nachtfalter ins Feuer.

Ohne nachzudenken?

Mit von oben aufgezwungener und als eigene anerkannte Idee, dass wir Deutschen eine Zivilisationsmission erfüllen. Wir bringen der Welt den Frieden. Über den Frieden, der nach dem deutschen Sieg erfolgen sollte, schrieb er sogar ein längeres Gedicht - für einen Fußballer erstaunlich geschickt. Er publizierte es in einem Militärblatt in Frankreich. Leerer Wahn.

Im Dezember schickte er der Mutter eine Liste aller abgeschickten und von ihr erhaltenen Briefe zu. Unglaubliche Buchhaltung. Mit deutscher Pingeligkeit zitierte er aus seinem Zeugnis, das ihm von seinem Vorgesetzten nach der Dienstzeit in Frankreich ausgestellt worden war: Er sei ein verantwortungsvoller und gewissenhaft seiner Aufgabe nachgehender Mensch. Er dachte wohl, dass sie so ein Zeugnis hätte gebrauchen können... in Zukunft.

Wusste er, dass er fällt?

Ganz irrational glaubte er, sie werden aus dem Kessel ausbrechen. Je schlimmer es kam, desto größer war sein Glaube daran. Desto bunter wurden seine Beschreibungen der Idylle, die er mit seiner Frau nach dem Kriege teilen wollte. Er glaubte an ein für ihn glückliches Kriegsende, und wie ein Held aus irgendeinem Theaterstück von Beckett kratzte er sich ganze Hautlappen ab, um die ... - ich habe das polnische Wort vergessen - die ... zu entfernen.

Die Läuse?

Nein, nein, zu den Läusen hatte er ein beinah freundschaftliches Verhältnis, er hat sich mit ihnen abgefunden. Es geht um... ich weiß schon, um die Krätze. Alle zwei Stunden versuchte er, sich mit Schnee zu waschen, weil der Militärarzt es ihnen empfohlen hatte; er hat das wunderbar ironisiert: Wenn sie „für Sauberkeit sorgen“, wird die Krätze verschwinden. Sauberkeit in einem aus der Erde ausgehobenen Loch, verstehen Sie?

Und jeden Tag um acht Uhr abends zog er seine Uhr auf. Daran kann ich mich erinnern. Um dieselbe Zeit trat auch die Mutter an die Uhr heran und zog sie auf. Sie hatten ihre ritualen Rendezvous, ihren mystischen Kontakt. „Dort, wo ich bin“, schrieb er, „bist Du mit mir, weil Du meine Heimat bist.“ Und er sah - wie im Film von Einstein - meine Augen, die ihm auf einmal an Stalingrads Horizont erschienen.

Der letzte Brief ist schrecklich pathetisch; er ist von Silvester. Er hat Hunger. Sein Kamerad im Loch, in dem sie sich aufhalten, schläft. Er selbst kann nicht einschlafen. Das Briefeschreiben - erklärt er - hilft ihm, zur Ruhe zu kommen, erlaubt ihm, den Hunger zu vergessen. Und plötzlich: „Jetzt kapituliere ich, ich muss das letzte Stück Brot essen.“

Wenn man Briefe von Stanis³awa Przybyszewska [Schriftstellerin und Malerin] liest, spürt man den Kokainhunger, der sie geplagt hat, es gibt den Kampf mit der Schreibmaschine, die Tasten klemmen, die Sätze sind chaotisch. Und die Briefe meines Vaters sind - was den Satzbau betrifft - fehlerfrei.

Unglaublich, im Schreiben war er besser als ich. Unter solchen Bedingungen hätte ich wohl keinen einzigen Satz auf die Reihe bekommen. Ich hätte nicht genug Überzeugung in mir gefunden, dass mein Schreiben einen Sinn hat.

Sind Sie in Stalingrad gewesen?

Nie.

Mochten Sie diese Stadt nicht sehen?

Gestern ja. Ich erfuhr, dass die früher von den Deutschen abtransportierten Skulpturen von Rodin wieder nach Wolgograd zurückgekehrt sind. Komisch, nicht wahr? Der erste Anstoß, dorthin zu fahren, kam durch Skulpturen von Rodin. Und wissen Sie warum? Weil ich Stalingrad aus polnischer Perspektive betrachte. Die eigene würge ich ab. Und eine deutsche gibt es nicht.

Was gibt es dann?

Eine totale Benommenheit. Einst wurde Stalingrad als eine heroische Tat betrachtet - ein Epos wie eine griechische Tragödie, obwohl dort eigentlich nichts Tragisches geschah. Natürlich ausgenommen die Tatsache, dass beinah alle Soldaten gefallen waren. Jetzt ist man der Meinung, dass Stalingrad eine totale Katastrophe war, eine der sinnlosesten Schlachten. Und besonders sinnlos war der wider Logik geleistete Widerstand, d.h. dass 300 000 Menschen sinnlos umkamen. Die meisten waren jung. Mein Vater war 31. An der Front war er Funker. „Ich fühle mich so schwach, dass ich meinen Aufgaben nicht mehr nachgehen kann.“ Er, ein Sportler, der immer in ausgezeichneter Verfassung war! Er, der es liebte, mit seiner Kraft zu protzen, und daran glaubte, dass dank ihrer alles im Leben gelingen wird.

Ich fühlte mich von ihm beleidigt.

Weswegen?

Weil er durch seine Blindheit, durch seine Akzeptanz dessen, was um ihn geschah, mich verließ und einem Schicksal übergab, das nicht allzu nett war. Daraufhin - als Strafe - verwandelte ich ihn in den Schlitten, den die russischen Kinder fuhren.

Was für ein Schlitten?

In Stalingrad benutzten die Kinder die Leichen der deutschen Soldaten als Schlitten. Surrealismus in der Natur. Und sie fuhren sie. Ich erfuhr davon aus dem Buch „Unmenschliche Erde“ von Józef Czapski [Maler und Schriftsteller, Kriegsgefangener in der UdSSR], das ich für einen deutschen Verleger übersetzte. Aus dieser Episode machte ich eine literarisch-theatralische Etüde, ich führte sie in den Schlosskatakomben in Brzeg (Brieg) bei Opole (Oppeln) auf. Ich betitelte sie „Hamlet spukt in Brzeg“. Dies war mein Debüt als Schauspieler, ich spielte Hamlet, der den Geist seines Vaters beschwor. Aus Lautsprechern kam das Weihnachtslied „Stille Nacht“, das der Reichssender am Heiligabend 1942 übertragen hatte. Dreißig Übertragungswagen waren daran beteiligt gewesen! Unheimliche Aufnahme, unheimliche Radiosendung. Es waren Soldaten aller Fronten aufgerufen worden. Und diese hatten geantwortet: Hier Stalingrad, hier die Wolgafront, hier Kreta, Frankreich, U-Boot-Hafen auf Atlantik... und sie hatten gesungen. All diese Soldaten hatten live in die Mikrophone gesungen: „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Von dieser gigantischen Front, von allen diesen Fronten, wo der Krieg ausgetragen worden war, hatten sie ins Reich ihre Träume von „Stiller Nacht, Heiliger Nacht“ gebracht. Ein totaler Kitsch.

Damals kannte ich die Briefe von meinem Vater noch nicht. Ich assoziierte ihn mit den Schlitten. Er zwang mich, verschiedene sportliche Leistungen auszuführen, er befahl mir, irgendwelche Hügel mit Skiern herabzufahren, täglich kalt zu duschen, meinen Körper zu beherrschen.

Ich wollte nicht, dass er zurückkommt. In mir saß die Angst, er käme zurück, und was dann?

Was dann?

Dann könnte ich mich nicht von meinem ursprünglichen Deutschtum befreien.

(Zuerst erschienen unter dem Titel: „Hamlecik“, in: Gazeta Wyborcza, Du¿y Format, 30.08.2004, aus dem Polnischen von Jaros³aw Zió³kowski (jar.z@gmx .net). Das Interview wurde leicht gekürzt. Die Briefauszüge von Peter Lachmann sind Rückübersetzungen aus dem Polnischen ins Deutsche, die Informationen zu P. Lachmann in der Einleitung stammen vom Übersetzer. Wir danken Teresa Torańska für die Abdruckerlaubnis. Fortsetzung (Teil 2) in der nächsten Ausgabe.)