Zur Tagung:„Polen an der Schwelle zur Fünften Republik?“

 

Unterschiede kennenlernen

 

Von Wulf Schade und Christiane Thoms

 

Dieses Motto scheint ein wichtiges „Lernziel“ der Tagung gewesen zu sein, die am 7. Juni in Berlin stattgefunden hat und von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD durchgeführt wurde. Eingeladen zum Vortragen waren namhafte Wissenschaftler, die in wichtigen Fragen zur Politik Deutschlands und Polens nur selten die kritisch-distanzierte bis ablehnende Meinung der deutsch-polnischen Gesellschaft und ihrer Mitglieder teilen. Grundlage für eine teilweise sehr erregte, aber immer sachliche Diskussion waren die Vorträge dieser Wissenschaftler zu aktuellen politischen Fragen in den deutsch-polnischen Beziehungen und zur Situation in Polen. Zu den deutsch-polnischen Beziehungen sprachen der Direktor des Deutschen-Polen-Institutes in Darmstadt, Prof. Dr. Dieter Bingen und der Direktor des Instytut Zachodni (Westinstitut) in Posen, Prof. Dr. Andrzej Sakson, ergänzt durch einen Beitrag von Prof. Dr. Jochen Franzke von der Universität Potsdam. Zu zwei wichtigen Fragen der polnischen Innenpolitik - über die Aufarbeitung weißer Flecken in der polnischen Geschichte sowie zur Existenz und Arbeit polnischer Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organisation - NGO) - sprachen Dr. Kazimierz Wójcicki vom Instytut Pamięci Narodowej (IPN-Institut für das Nationale Gedenken) in Warschau sowie Dr. Stefan Garsztecki von der Universität Bremen.

 

An der Tagung nahmen fast 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und Polen teil. Am Vorabend fand als Einklang zur Tagung am Veranstaltungsort „Kulturforum Hellersdorf“ die gemeinsam mit dem Kulturring in Berlin e.V. durchgeführte Lesung „VIVA Polonia - Von der Wupper an die Weichsel. Als deutscher Gastarbeiter in Polen“ statt. Vor etwa 100 Personen wurde knapp 1,5 Stunden aus dem gleichnamigen Buch des Kabarettisten Steffen Möller vorgelesen.

Die eigentliche Tagung begann am Samstag mit dem Referat von Prof. Dr. Bingen über den Stand und die Probleme der aktuellen deutsch-polnischen Beziehungen. Einleitend stellte er fest, dass sich die Beziehungen nach dem „Zusammenbruch des Kommunismus“ nicht automatisch - wie man es erhofft hatte - ohne größere Probleme entwickelten, sondern dass die Prägung durch die Geschichte eine bedeutende, oftmals negative Konstante darstellt. Positiv bleibe aber festzuhalten, dass der Grenzbestätigungsvertrag von 1990 eine endgültige Regelung der deutsch-polnischen Grenze bedeute und dass der Nachbarschaftsvertrag von 1991 die Beziehungen vorbildhaft verbesserte, auch wenn er - in einem allerdings positiven Sinne - in weiten Teilen mittlerweile überholt sei: seine wesentlichen Aufgaben habe er erfüllt, Polen ist mit deutscher Hilfe in die westlichen Sicherheits- und Wirtschaftsstrukturen - NATO und EU - eingegliedert worden. Damit endete eine wichtige Phase der gemeinsamen Geschichte: die paternalistische Phase der deutsch-polnischen Beziehungen war beendet. Stattdessen begann eine Beziehung auf Augenhöhe, in der Polen seine Interessen auch gegen die Deutschlands formuliert und vertritt. Deutlich wurde das auf internationaler Ebene im Verhältnis zur USA insbesondere bei der Irakfrage, im europäischen Verfassungskonflikt wie auch beim deutsch-russischen Pipeline-Projekt, auf bilateraler Ebene beim Konflikt um das „Zentrum gegen Vertreibungen“. Die Kaczyński-Zeit habe nur insofern eine Bedeutung, als sie durch nationalistische Töne die Auseinandersetzungen atmosphärisch verschärfte, aber in der Substanz der Differenzen zwischen Deutschland und Polen keine Neuerungen brachte. Deshalb kann man sich zwar über die Änderung des Umgangstones aus Polen unter der Regierung Tusk freuen, allerdings muss man realisieren, dass in der Sache bisher keine bedeutenden Änderungen eingetreten sind. Die Differenzen sind zwar groß, insbesondere in Bezug auf die Haltung Polens gegenüber der USA, aber hier deuten sich erste tiefer gehende Änderungen an, z. B beim Pipeline-Projekt und dem „Zentrum gegen Vertreibungen“. Positiv bleibt weiterhin festzuhalten, dass sich die teilweise scharfen Auseinandersetzungen auf der politischen Ebene nicht auf der gesellschaftlichen Ebene widerspiegeln: Entsprechend einer Meinungsumfrage unter der polnischen Bevölkerung im Januar 2006 gilt Deutschland als der mit Abstand zuverlässigste Partner Polens auf der europäischen Ebene. Ein wesentliches Element für die aktuellen Differenzen zwischen Polen und Deutschland auf der zwischenstaatlichen Ebene, die Bingen auch teilweise auf die Ebene Polen-EU projizierte, sah er in dem noch unterentwickelten Verständnis Polens über die demokratischen Strukturen und die Diskussionskultur des westlichen Staatensystems (s.a. Auszüge).

Prof. Dr. Sakson bestätigte in weiten Teilen seines Referates die Einschätzungen von Prof. Bingen v. a. bezüglich der 90er Jahre, wobei er aus polnischer Sicht zu einigen anderen Ergebnissen bezüglich der Ursachen der Konflikte in den Jahren danach kam. Ausgangspunkt seines Referates war die Feststellung, dass sich Polen in der günstigsten geopolitischen Situation seit über 200 Jahren befindet, was sich auch positiv auf die deutsch-polnischen Beziehungen auswirkt. Nach der Auflösung der politischen Blöcke in den späten 1980er Jahren hatten Deutschland und Polen das gleiche politische und Wirtschafts-System. Die Grenzfrage konnte erfolgreich geklärt werden, die Diskussion um die Sicherheit der Oder-Neiße-Grenze und die Eigentumsansprüche in den ehemaligen deutschen Ostgebieten sei eine innerdeutsche Diskussion, an der sich Polen nicht beteilige. Der Nachbarschaftsvertrag sei von so hoher Qualität, dass er von anderen Staaten für ihre bilateralen Verträge zum Vorbild genommen worden ist. Der „Erzfeind“ Deutschland wurde zum Anwalt der Interessen Polens bei der Eingliederung in die NATO und EU. Bis hierhin, d.h. bis Ende der 1990er Jahre, hat alles im Wesentlichen eine positive Entwicklung genommen. Die Differenzen begannen mit dem so genannten Krieg der Resolutionen 1998, als die guten Beziehungen zu Polen innerdeutschen wahltaktischen Fragen geopfert wurden. Dem schloss sich die von den Konservativen  unterstützte Forderung nach einem „Zentrum gegen Vertreibungen“ an. Diese Phase wie auch das Jahr 2002, als zur Bundestagswahl wiederum die deutsch-polnischen Beziehungen zum Spielball der konservativen Kräfte wurden, die von Polen völlig unverständlich die Rücknahme so genannter Bierut-Dekrete zur ‚Vertreibung der deutschen Bevölkerung' forderten, bedeutete für die seit Jahrzehnten für den polnisch-deutschen Ausgleich eintretenden Persönlichkeiten wie Władysław Bartoszewski, Bronisław Geremek, Jerzy Holzer, Tadeusz Mazowiecki u.a. eine bittere Erfahrung. Man erkannte hinter diesen Diskussionen das Bestreben eines bedeutenden Teils der politischen Klasse Deutschlands die jüngere Geschichte umzuinterpretieren. Weitere Punkte, die zu einer Eintrübung des deutsch-polnischen Verhältnisses führten, sah Prof. Sakson ähnlich wie Prof. Bingen in dem Streit um die Ostseepipeline, die Teilnahme am Irak-Krieg wie auch um weitere Fragen (s.a. Auszüge).

Das erste Referat am Nachmittag von Prof. Jochen Franzke hatte die strategische Politik Westeuropas gegenüber Russland nach dem Auseinanderfallen des von der Sowjetunion beherrschten Staatenbundes Mittel- und Ost-Europas zum Inhalt. Sein Fazit war, dass man das „autoritäre Russland“ nicht isolieren dürfe, sondern durch klare Positionen und harte Verhandlungen in seinen expansiven Bestrebungen stoppen müsse. Der Westen dürfe auf keinen Fall in Abhängigkeiten von Russland geraten und dort, wo diese bestehen, ihre Wirkung beschränken. Bei der Gestaltung einer solchen Politik gegenüber Russland sollten Polen und Deutschland zusammenarbeiten und innerhalb der EU so zum Vorreiter werden, hier sei ein wichtiges Feld gemeinsamer Interessenpolitik vorhanden (s.a. Auszüge). Man spürte während des Vortrages eine wachsende Verunsicherung eines großen Teils des Publikums, die sich leider nicht in der anschließenden Diskussion, sondern erst in den Gesprächen während der Pause äußerte. Man war über diesen Vortrag, der einer rein interessengeleiteten Machtpolitik das Wort redete, konsterniert, verstand sich doch die DPG-BRD immer als Teil einer Friedensbewegung, die gerade den Menschen und nicht die Macht in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellte. Man spürte, das war hier anders: Ungetrübt jeden Zweifels, dass die EU-Staaten gegenüber dem „autoritären Russland“ ein zivilisatorisch und moralisch höher stehendes Gesellschaftssystem darstellen, die durch geschickte Politik das expansive Russland bändigen müssen, wurden hier antirussische Stimmungen entwickelt. Die Zusammenarbeit der EU und der USA mit prowestlichen Diktaturen, das Führen von völkerrechtswidrigen Kriegen - aktuell der Irak-Krieg - spielten für das Denken von Prof. Franzke bezüglich einer moralischen Höherstellung des Westens über den „autoritären“ Osten keine Rolle.

Dr. Kazimierz Wójcicki leitete dann mit seinem sehr faktenreichen und interessanten Referat über die weißen Flecken in der Erinnerungsarbeit der polnischen Gesellschaft zu einem innenpolitischen Thema über. Er versuchte anhand der zeitlichen Abfolge der historischen Themen, die den Zeitraum von 1918 bis heute betreffen und nach 1944/1989 in Polen diskutiert wurden, die Hintergründe und Möglichkeiten zu dieser Diskussion zu verdeutlichen. Wójcicki stellte dabei auch die Veränderung in der Schwerpunktsetzung und die Umwertung in der Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit dar, die nach 1989 eintraten. Dabei zeigte er gleichzeitig gewisse Konstanten auf. So wurde von Wójcicki einerseits der Kommunismus und Nationalsozialismus - Stichwort: totalitäre Systeme - gleichgestellt und damit die historische Diskussion in Polen in der Zeit bis 1989 quasi entwertet, andererseits auch deutlich gemacht, dass die Judenverfolgung bzw. die Verdrängung deren Geschichte in Polen quer durch die politischen Lager ging. Über den Beitrag wurde mit Dr. Wójcicki (leider liegt uns sein Referat nicht schriftlich vor) v.a. wegen seiner eindeutigen Zuschreibung Kommunismus=Verbrechen - bürgerliche Demokratie=menschenwürdiges System und seinen daraus folgenden Bewertungen der historischen Diskussionen heftig gestritten, zumal er sich einiger Vereinfachungen, wenn nicht sogar Manipulationen, bediente.

Den Abschluss der Tagung bildete dann ein sehr detailliertes und informatives Referat von Dr. Stefan Garsztecki über die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung sowie eines Netzes von Nichtregierungsorganisationen in Polen nach 1989, die er als einen wichtigen Gradmesser einer Zivilgesellschaft im Sinne des bürgerlich-demokratischen Systems betrachtete (s.a. Auszüge). Er zeigte aber auch, dass es bereits seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre Bestrebungen in der polnischen Arbeiterschaft gab, eigenständige Genossenschaften zu fordern wie auch nach Selbstverwaltung von Arbeitsstätten. Auch die „Solidarnoœæ“ hatte in ihrem Namen die Forderung nach Selbstverwaltung der Arbeitenden, wobei sie diese Forderung auch auf die politische Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene übertrug. Interessant war in diesem Zusammenhang auch ein kurzer Wortwechsel zwischen Wójcicki und Garsztecki, ob es in der Solidarność einen spürbaren linken Flügel gab (Garsztecki) oder nicht (Wójcicki). Leider konnte Dr. Garsztecki sein Referat erst ganz am Ende der Tagung und nur unter großem Zeitdruck halten, sodass an eine größere Diskussion nicht zu denken war.

 

 

Perspektiven für Deutschland, Polen und Europa

 

Von Dieter Bingen

 

Seit Anfang dieses Jahrzehnts werden Deutsche und Polen auf eine ganz undiplomatische  Weise darauf gestoßen, dass für die gegenseitige kollektive Wahrnehmung, soweit sie der Richtungsgebung durch Politik und Medien ausgesetzt ist, den Erfahrungen der Jahre 1939-1945 eine konstitutive Bedeutung zukommt. Die Prägung durch die Geschichte  scheint ungeachtet der unzähligen positiven Tendenzen im individuellen Austausch und einer geradezu explosiven Ausweitung und Vertiefung institutionalisierter und informeller Kontakte, Abhängigkeiten und Netzwerke seit Beginn der 1990er Jahre eine Konstante zu bleiben.

 

Neue Herausforderungen in diesem Jahrzehnt

Dabei spielen die innenpolitischen Implikationen außenpolitischen Handelns eine anscheinend unverändert große Rolle. Dies trifft auf geschichtspolitische Debatten im bilateralen Verhältnis zu und ebenso intensiv auf außenpolitische Fragen von grundsätzlicher Bedeutung.  Vier Themenkomplexe beschäftigten deutsche und polnische Politiker und die virtuelle Realität der Medienwelt in den letzten Jahren ganz besonders. Deren Behandlung in beiden Ländern setzte Maßstäbe für die Einschätzung des aktuellen Standes und der Perspektiven der politischen Beziehungen: der Irak-Konflikt, die europäische Verfassungsdebatte, die Debatte um ein "Zentrum gegen Vertreibungen" und das deutsch-russische Ostseepipeline-Projekt. 

Bemerkenswert ist bei alldem, dass die großen politischen Kontroversen die Alltagsbeziehungen zwischen Deutschen und Polen sehr viel weniger als die Medienwirklichkeit beeinflussen. Frau Schmidt und Herr Kowalski wollen eher in Ruhe gelassen und von der „hohen Politik“ nicht gestört werden. Geradezu sensationell sind beispielsweise die Ergebnisse unterschiedlicher in Polen durchgeführter Meinungsumfragen der jüngsten Zeit. Sie zeigten ein bemerkenswertes Auseinanderdriften zwischen Aufgeregtheiten und Komplexen im Treibhausklima des politischen Warschau und sehr viel gelasseneren und selbstbewussten polnischen Bürgern, die umso offener und unvoreingenommener auf ihre westlichen Nachbarn blicken, je besser sie die Deutschen kennen. So ging aus einer im Januar 2006 durchgeführten repräsentativen Umfrage hervor, die befragt, welche EU-Staaten Polens beste Alliierte seien: Deutschland wurde mit 35 % (2004: 19 %) an erster Stelle genannt, gefolgt von Großbritannien mit 28 % und Frankreich mit 19 %.

Ein Neuanfang nach 2007

Es kommt entscheidend darauf an, ob beide Seiten die positiven Signale der jeweils anderen Seite verstehen, aufgreifen und gegenseitig positiv verstärkend wirken lassen. Es gibt weiteren Handlungsbedarf und Vorschläge, um die „deutsch-polnische Interessengemeinschaft in Europa“ wieder zu beleben. Gemeinsames Thema des Dialogs sollte die „östliche Flanke“ der EU sein, die Beziehungen zu den Nachbarn und insbesondere zu Russland: Sie bleiben eine zentrale Herausforderung in den deutsch-polnischen Beziehungen. Gemeinsame deutsch-polnische Beiträge zur Formulierung einer gemeinsamen EU-Ostpolitik hätten eine stabilisierende Funktion nicht nur für die bilateralen Beziehungen, sondern auch für die gesamte europäische Entwicklung. Im Wesentlichen geht es darum, wie beide Länder zur Verdichtung der Kooperationsbeziehungen mit der Ukraine im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik, zur Fortentwicklung der EU-Russland-Beziehungen und zur Suche nach neuen Formen des Umgangs mit dem Sonderfall Belarus beitragen können.

Fragen einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik werden auch im engeren bilateralen Dialog zwischen Polen und Deutschland eine prominente Rolle spielen. Kommt die Ostseepipeline weiter voran, sollten beide Länder nach neuen Kooperationsvorhaben Ausschau halten, die der langfristigen Sicherung und Diversifizierung ihrer Energielieferungen dienen. Zu prüfen wäre etwa der Nutzen einer Verlängerung der ukrainischen Ölpipeline Odessa-Brody nach Polen und von dort nach Westen.

Die deutsch-polnischen Unterschiede, die gerade in der Russland- und in der Energiepolitik sichtbar wurden, haben einen strukturellen Charakter, und wahrscheinlich sind sie nicht so rasch zu überwinden. Darin sieht der polnische Politikanalytiker Piotr Buras jedoch eine besondere Herausforderung für eine gemeinsame EU-Energiepolitik. Ein Minimum an Verständigung zwischen Polen und Deutschland sei notwendig, „weil diese beiden Staaten die entgegen gesetzten Pole in der Haltung zu Russland bilden, indem sie beide Russland als eins der wichtigsten Kapitel ihrer Außenpolitik betrachten. Damit markieren beide Länder die Randbedingungen für einen Kompromiss in der EU-Politik gegenüber Russland. Beide Länder definieren trotz der oft tiefen Interessenunterschiede die für sie wichtigsten Herausforderung und Wirkungsbereiche in der europäischen Politik auf ähnliche Weise. Zudem sind Deutschland und Polen in hohem Maße zur Zusammenarbeit bei der Lösung von Schlüsselproblemen für die Zukunft Europas ‚verurteilt'. Dies ist nicht nur wegen ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und mutmaßlichen ‚Interessengemeinschaft' so. Ein wesentlich plausiblerer Grund, weswegen die Bedeutung des Zusammenwirkens dieser beiden Länder den bilateralen Rahmen überschreitet, ist - paradoxerweise - die Divergenz der deutschen und polnischen Standpunkte in vielen der hier bereits behandelten Fragen.“

Ein Hauptgrund für das große Missverständnis zwischen Deutschland und Polen liegt darin, dass weder Deutschland noch Polen die ungeachtet der vielfältigen Asymmetrien tatsächlich bestehenden Analogien mit den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 erkannt haben. Das westliche Deutschland und Frankreich waren über Jahrzehnte und noch nach dem Wendejahr 1989 zwei Pole bezüglich ihrer Interessen und ihrer Vorstellungen von Europa. Aber gerade deshalb wurde die Kooperation zwischen Bonn/Berlin und Paris zum Motor der europäischen Integration und die Verständigung zwischen den beiden Regierungen die notwendige Bedingung für die Weiterentwicklung der EWG/EG/EU. Wer die Polarität von Deutschland und Polen in der EU nach 2004 erkennt, sollte eigentlich auf das deutsch-französische Muster setzen und den Kompromiss und Ausgleich zwischen Berlin und Warschau suchen, ohne den die Weiterentwicklung der EU27 scheitern muss. Da aber beiden, Deutschen und Polen, an der Zukunft der EU gelegen ist, gibt es hier die „Interessengemeinschaft in Europa“. Die Idee der „Interessengemeinschaft“ nimmt aber nicht die prästabilisierte Harmonie als Ausgangspunkt der Politik an, sondern sucht auf der Grundlage der Gemeinsamkeit von Axiomen des Umgangs miteinander und eines Einvernehmens über den Modus operandi nach dem Interessenausgleich im bilateralen und damit zugleich des europäischen Interesses.

(Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen Instituts in Darmstadt.)

 

Perspektiven für Deutschland, Polen und Europa

 

Von Andrzej Sakson

 

Immer wieder gibt es Warnsignale, die davon zeugen, dass die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland durch die historische Vergangenheit belastet sind. Dennoch öffnet die Tatsache, dass Polen Mitglied der europäischen und euro-atlantischen Gemeinschaften wurde, ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Warschau und Berlin.

 

Zu den Schwankungen der Fundamente in der deutsch-polnischen Versöhnung trugen am Anfang des 21. Jahrhunderts einige wesentliche Ereignisse bei: 1. Die Diskussion um  das „Zentrum gegen Vertreibungen“, das auf Initiative des BdV und seiner Führung von Erika Steinbach in Berlin entstehen soll, mündet in einer Tendenz, die Deutsche auch der „europäischen Gemeinschaft der Opfer“ angehören lässt. 2. Die Forderungen des Vertriebenenbundes (BdV) und der Preußischen Treuhand wegen der Entschädigungen führten zur Entstehung der Polnischen Treuhand und der Sejm-Resolution wegen der Kriegsentschädigungen vom September 2004. Der Grund für die plötzliche Verschlechterung der Beziehungen zwischen Warschau und Berlin im September 2006 waren 22 Anklagen, gerichtet gegen Polen von der Preußischen Treuhand an den Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte in Straßburg. 3. Sowohl die Annäherung Deutschlands an Putins Russlandpolitik als auch der Bau des „harten Kerns“ Europas auf der Basis der nahen deutsch-französischen Beziehungen führten zur Veränderung der polnisch-deutschen Beziehungen. Die Absicht des Baus einer nördlichen Pipeline zwischen Russland und Deutschland durch die Ostsee bedingte eine verstärkte Spannung zwischen Polen und Deutschland.

Messinstrumente einer deutsch-polnischen Zusammenarbeit

Gemessen an der Temperatur der deutsch-russischen Beziehungen lässt sich die Qualität der deutsch-polnischen politischen Zusammenarbeit, die einst polnisch-deutsche Interessengemeinschaft genannt wurde,  ablesen. Aber auch das Engagement Deutschlands in die Rekonstruierung transatlantischer Beziehungen sowie die Rolle als Bindeglied des europäischen Systems verraten eine entsprechende Tendenz.

Die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland für Polen wird durch einen multilateralen Gesichtspunkt interpretiert. So verwundert es nicht, dass die sich in Deutschland vollziehenden Veränderungen die gegenwärtigen polnisch-deutschen Beziehungen beeinflussen. Einerseits ist das die neue, emanzipierte Rolle Deutschlands in der internationalen Politik, die sich auch in der Beziehung zu den USA, zu Russland und der irakischen Angelegenheit widerspiegelt. Andererseits ist die Veränderung der Einstellung vieler Deutschen zur Vergangenheit relevant. In der individuellen Dimension überwiegt die Überzeugung, dass Deutschland auch Opfer des 2.Weltkrieges war. Das stellt eine neue Qualität dar, die die gegenseitige Wahrnehmung beeinflusst. Vor diesem Hintergrund erscheinen besonders nach dem 1.Mai 2004 wesentliche Risse und Brüche in den bisherigen polnisch-deutschen Beziehungen.

Das Interesse Polens

Im Interesse Polens liegt immer noch die nahe Zusammenarbeit mit den Deutschen. „Die orangene Revolution“ in Kiew zeigte, dass die aktive Rolle Polens in der EU möglich ist und es somit zu einer effektiven Zusammenarbeit auf der Linie Warschau-Berlin kommen kann. So jedenfalls suggerieren es Tusk, Bartoszewski, Steinmeier und Sikorski.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit soll sich weiter entwickeln und weiter unterstützt werden. Ich glaube, dass gegenwärtig und in der nächsten Zukunft die polnisch-deutschen Beziehungen einen „normalen Charakter“ einnehmen werden, d.h. auf der Basis der gemeinsamen demokratischen Werte, die für die EU-Länder charakteristisch sind. Das verschiedene wirtschaftliche Potential und die unterschiedliche Wahrnehmung der historischen Vergangenheit müssen hier jedoch besser wahrgenommen werden. Zur stabilen Grundlage der polnisch-deutschen Zusammenarbeit gehört das akkumulierte soziale Kapital beiderseits der Oder.

Einflüsse auf Normalisierung der Beziehungen

Eine wesentliche Rolle zum Durchbruch einer Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen spielten die Veränderungen in Deutschland und der Prozeß der schwierigen Verständigung und Versöhnung.

Großen Einfluss hatte „die Beendigung des Kalten Krieges 1989/1990 zwischen dem Osten und Westen, was aus dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in Polen und der Vereinigung Deutschlands resultierte. Auf den „Trümmern“ der VP und der DDR entstanden zwei benachbarte Länder mit demokratischen Formen der Machtausübung und der Marktwirtschaft. Ohne diese Veränderungen wäre der Durchbruch in den polnisch-deutschen Beziehungen unmöglich. Die Veränderungen in Deutschland nach 1990 führten dann zur endgültigen Anerkennung der polnischen Westgrenze. Zwei fundamentale Verträge wurden 1990 und 1991 über die Anerkennung der Grenzen und freundschaftliche Zusammenarbeit unterschrieben, die grundsätzliche Ziele markierten und zu Vektoren der gegenseitigen Beziehungen, dabei auch Musterbeispiel für die weiteren Verträge mit anderen Nachbarn Polens wurden. Auf der Basis dieses Durchbruchs wurde die vielfältige polnisch-deutsche Zusammenarbeit auf vielen Ebenen ermöglicht: der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen“.

Deutschland als Anwalt Polens

„Deutschland wurde zum „Anwalt“ Polens im Prozess der Integration mit der Europäischen Union und der NATO. Dies kommt im bedeutenden Ausmaß aus den allgemeinen Interessen Deutschlands, die ähnlicherweise wie gegenwärtig Polen in der Beziehung zur Ukraine, mit den „vorausschaubaren“ Staaten benachbart sein will, d.h. mit den Ländern, in denen das demokratische System herrscht und die Menschenrechte und die Marktwirtschaft bewahrt werden. Im Interesse Polens, der polnischen Staatsraison lag und liegt weiterhin die nahe Zusammenarbeit mit den Deutschen.

Die polnisch-deutschen Beziehungen nach 1989/1990 entwickelten sich in eine dynamische und generell konfliktfreie Weise bis zum Ende der 90er Jahre. Die ersten deutlichen Anzeichen des Verlustes der bisherigen Dynamik zeichneten sich 1998 ab, als der sog. „Krieg auf Resolutionen“ ausbrach, der auch als „Papierkrieg“ bekannt wurde. Er war mit der Bundestagsresolution verbunden in Bezug auf die Rechte der Ausgesiedelten und der Antwort des polnischen Sejm.

Es stellte sich heraus, dass man zum innerdeutschen Wahlkampf im Jahre 1998, aber auch 2002 und 2005 auf die alten Parolen zurückreichte. Dies bezog sich z.B. auf die Aufforderung zur Nichtigkeit der „Beneś- und Bierut-Beschlüsse“ im Jahre 2002, um die Stimmen der „Vertriebenen“ zu gewinnen. Die Argumentation dieser Art führte zur lebhaften Diskussion in Polen und zur Akzentuierung der vielen kritischen Stimmen gegenüber den Deutschen.“

(Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Andrzej Sakson, Direktor des Instytut Zachodni (Westinstitut) in Poznań)

 

 

Deutschland, Polen und Russland im geopolitischen Dreieck

 

Von Jochen Franzke

 

Die Lösung der geopolitischen Probleme im östlichen Europa ist nur ein Teil einer größeren weltpolitischen Auseinandersetzung, die die Geopolitiker als „Eurasisches Schachbrett“ bezeichnen. Die beste Lösung wäre eine konditionierte strategische Partnerschaft, die der Westen Russland anbieten kann. Nur so könnte ein neuer Raum gestaltet werden, der auf der Grundlage des gegenseitigen Nutzens und transparenter Regeln für beide Seiten gelten.

 

Die in Deutschland lange Zeit verpönte geopolitische Sichtweise, die in der russischen Elite gegenwärtig sehr dominant in Erscheinung tritt, gewinnt in Deutschland und Polen immer mehr an Boden. Historisch betrachtet, gibt es mehrere Gründe.

- Die Sowjetunion befindet sich seit dem Zerfall 1991 in einer Übergangszeit, sodass die institutionelle Zugehörigkeit offen und somit die geopolitische Lage instabil erscheint. „Mit dem Beitritt vieler mittelosteuropäischer Staaten zur NATO (ab 1999) und zur EU (ab 2004) begann sich diese diffuse Übergangsperiode ihrem Ende zu nähern, ohne dass klar war, wie schnell und mit welchem Ergebnis diese Übergangsphase zu Ende gehen könnte.“

 -Es wird „ein bipolares geopolitisches Szenario immer deutlicher, indem nach Osten erweiterte westliche Institutionen wie die NATO und die EU ohne eine Pufferzone direkt auf Russland treffen. Dieses hat alle Überlegungen, selbst Teil der NATO oder der EU zu werden, zu den Akten gelegt, es wird ein eigenständiger Faktor in diesem Raum bleiben (möglicherweise gemeinsam mit Belarus und einigen kleinen Gebieten anderer Staaten dieses Raumes)“. Russland als ehemalige Supermacht des Kalten Krieges versucht, nach der „geopolitischen Katastrophe“ (Putin) zu einer innerpolitischen Stabilisierung zu streben. Bei der Umsetzung dieser Zielstellung stellt das autoritäre System jedoch ein Hindernis dar.

Zukunft der geopolitischen Frage

„Wie kann das Verhältnis zwischen dem erweiterten Westen und Russland ausgestaltet werden? Sicher gibt es keinen Streit um die Zielsetzung, diesen Raum per Kooperation und nicht per Konfrontation zu gestalten. Dabei geht es um vielfältige politische, wirtschaftliche, soziale und national-ethnische Fragen. (...) Ein Szenario kann man allerdings meines Erachtens ausschließen: In der globalisierten Welt wird es allerdings einen neuen „Eisernen Vorhang“ nicht geben.“

Zur Stabilisierung der neuen geopolitischen Lage im östlichen Europa sind drei Szenarien denkbar: 1. Ein Kompromiss zwischen den Großmächten ist in Teilen der deutschen politischen Elite populär, wobei sich diese aus geopolitischer Motivation auf Russland fokussiert. „Stabilität im mittel- und osteuropäischen Raum soll durch eine möglichst enge Kooperation mit Russland erzielt werden. Interessen anderer mittel- und osteuropäischer Staaten (darunter auch Polens) werden meist nur durch dieses „russische Prisma“ wahrgenommen bzw. sogar als störend betrachtet. Der Raum erscheint so überwiegend als Objekt deutsch-russischer Großmachtpolitik (möglichst mit französischer Unterstützung). Diese Politik war typisch vor allem für die zweite Regierungszeit von Kanzler Schröder. Der jetzige Außenminister Steinmeier versucht, unter der Überschrift „Annäherung durch Verflechtung“ soviel wie möglich davon beizubehalten.“ 2. Einen Kompromiss zwischen der erweiterten EU/NATO und Russland über die Ausgestaltung des künftigen Verhältnisses zwischen dem erweiterten Westen und Russland zu erreichen und damit Stabilität in Mittel- und Osteuropa langfristig zu sichern, hätte den Vorteil, dass alle betroffenen Staaten darin einbezogen wären. Besonders die Mechanismen der internen Abstimmung eines gemeinsamen Vorgehens der EU sind dazu geeignet. „Mir scheint, dass die Politik der gegenwärtigen Bundeskanzlerin in diese Richtung zielt.“ 3. Russland aus diesem Raum so weit wie möglich zu verdrängen, scheint durchaus in einigen ostmitteleuropäischen Staaten (und zeitweilig in den letzten Jahren auch in Polen) Konjunktur zu haben. „In Deutschland gibt es für solche Bestrebungen keine Tradition. Ein solches Vorgehen entspricht unter keinen denkbaren Umständen der deutschen Staatsraison. In Polen gab es während der Regierungszeit von Ministerpräsident Kaczyński Ansätze für eine solche Orientierung, die jetzige Regierung Tusk betreibt eher wieder eine kooperative Russlandpolitik.“

Zusammenarbeit auf einer neuen Grundlage

In den kommenden Jahren wird es die Aufgabe sein, durch neue Vereinbarungen der Zusammenarbeit eine neue Grundlage zu geben. Diese von beiden Seiten angestrebte „Strategische Partnerschaft“ ist jedoch an eine Reihe von noch nicht geklärten Voraussetzungen gebunden:

- EU und NATO sollten gegenüber Russland mit einer Stimme sprechen und eine gemeinsame Ostpolitik konsequent verfolgen.

- Russland müsste bereit sein, diesen Kompromiss einzugehen und seine Absichten, die EU zu spalten, aufzugeben.

- Das wirtschaftliche Interesse der EU-Staaten an Russland (z.B. Russland als Energielieferant) sollte nicht den allgemein-politischen (z.B. Einhaltung der Menschenrechte und Förderung der Demokratie) vorangestellt werden.

(Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Jochen Franzke, Universität Potsdam und Herausgeber der deutsch-polnischen Zeitschrift WeltTrends)

 

Zivilgesellschaft in Polen

 

Von Stefan Garsztecki

 

Von Transformationsforschern wird mit Blick auf Mittel- und Osteuropa von einer Schwäche der Zivilgesellschaften gesprochen, obwohl zivilgesellschaftliche Ansätze wesentlich zum Wandel von 1989 beigetragen haben. Auch in den postkommunistischen Gesellschaften wird die Tradition der eigenen Zivilgesellschaft  kaum gepflegt. Der Mythos der Solidarność erfuhr nach ihrem Sieg eine Devaluation. Warum ist das Ereignis, das Polen 1918 in die Unabhängigkeit führte, fast vergessen und warum deren Ideen gescheitert?

Die Aneignung westlicher Ideen und die Umstände des Systemwandels in Polen könnte zum Verschwinden der eigenen zivilgesellschaftlichen Traditionen beigetragen haben. Der Erfolg der Solidarność könnte ihr selbst zum Verhängnis geworden sein.

Ideen der polnischen Opposition vor 1989

„Die Programmerklärung von PPN [Polskie Porozumienie Niepodległościowe - Polnischen Vereinigung für Unabhängigkeit] vom Mai 1976 betonte den Kampf um die Wiedererringung der gesellschaftlichen Freiheiten, die 1956 und 1970 erreicht worden seien, in der Folge aber wieder jeweils von der Staatsmacht Einschränkung erfahren hätten. Und zwar seien für die Wiedererlangung der Freiheit die Anstrengungen der Nation selber notwendig, keine Hilfe von außen. Nicht unähnlich den großen Nationalaufständen des 18. und 19. Jahrhunderts fordert auch PPN die Einheit der Nation über alle trennenden politischen und gesellschaftlichen Unterschiede hinweg. In einleitenden Prinzipien zur Programmerklärung von PPN stellt man sich in die demokratischen Traditionen von Polens Adelsrepublik seit dem 16. Jahrhundert und formuliert einige Prinzipien und Ziele. Zu diesen gehören das Recht auf nationale Selbstbestimmung, die Gleichheit der Bürger vor dem Recht, die Ablehnung der Diskriminierung der katholischen Mehrheit der Bevölkerung, die ständige Vergrößerung der Bürgerfreiheiten und die Zugehörigkeit zur westlichen Zivilisation. Die Ziele von PPN leiten sich daraus ab und lassen sich auf die Wiedergewinnung einer wirklichen Souveränität, die Einführung einer Mehrparteiendemokratie in Polen, die Garantie von Menschen- und Bürgerrechte sowie die Öffnung zur Welt zusammenfassen. (...) Im Bereich der Außenpolitik wird die Unabhängigkeit von der Sowjetunion betont und auch die Jahrhunderte lange Gemeinschaft mit Litauern, Weißrussen und Ukrainern hervorgehoben.“ KOR [Komitet Obrony Robotników - Komitee zur Verteidigung der Arbeiter] setzte sich für die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte, das freie Vereinigungsrecht und somit für die Gründung freier Gewerkschaften ein. „Anders als PPN, die auf eine geheime Tätigkeit ausgerichtet war, strebten KOR und auch seine organisatorische Fortentwicklung KSS-KOR [Komitet Samoobrony Społecznej-Komitet Obrony Robotników - Komitee der gesellschaftlichen Selbstverteidigung - Komitee zur Verteidigung der Arbeiter] nach Öffentlichkeit.“

Bereits vor dem August 1980 bestanden Elemente einer Bürgergesellschaft, d.h. Vereinigungen, Organisationen und Menschen, die sich gegen staatliche Übergriffe wehrten und sich für gesellschaftlichen Freiraum einsetzten. Die Gründung der Solidarność ist aus Sicht der Organisationen eine Fortsetzung, aus Sicht der Gesellschaft wird sie als Durchbruch zu einer unabhängigen Bürgergesellschaft gesehen, die in der Gewerkschaft Solidarność eine freie Interessenvertretung erhielt.

Zur Vorgeschichte der Solidarność gehört die Gründung freier Gewerkschaften in Danzig und Kattowitz 1978. In der Begründung für diesen Schritt hieß es, dass in der Staatswirtschaft der Arbeitgeber zu stark sei, was ein Ungleichgewicht zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zur Folge hatte. „Den ideologischen Ansprüchen, als Volksdemokratie besonders die Rechte der Arbeiter zu vertreten, wird hier eine klare Absage erteilt. Indem sich die Gründungsmitglieder dieser Initiative auf die Konvention Nr. 87 der Internationalen Organisation für Arbeit beriefen, forderten sie das Recht auf unabhängige Vertretungen für  Arbeitnehmer und Arbeitgeber, frei von staatlicher Einmischung, wobei sie zugleich klarstellten, dass sie keine politischen Ziele hegten und auch nicht die Machtübernahme im Lande planten .“

Es gab noch zahlreiche andere unabhängige Gruppierungen und Vereinigungen, die Ende der Siebziger Jahre nicht nur die Einhaltung der Bürgerrechte forderten, sondern auch für eine neue Gesellschaftsordnung und für ein Anknüpfen an eigene politische Traditionen kämpfte.

In den Handlungsrichtlinien werden die Traditionen der Nation, die Herausforderungen der Demokratie und der sozialistische Sozialgedanke sowie die christliche Ethik benannt und damit die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit verteidigt.

Bei der Mehrheit der Gruppierungen bestand trotz der programmatischen Unterschiede Einigkeit darüber, dass sich das System in Richtung einer Demokratie entwickeln sollte, hinsichtlich der einzusetzenden Mittel bestand keine Übereinstimmung.

Aspekte und Auswirkungen des Wandels von 1989

Obwohl die Zivilgesellschaft durch die Schaffung neuer institutioneller Rahmen nach 1989 eine enorme Stärkung erfuhr, wurde sie durch eine Abwanderung einiger Führungseliten wiederum geschwächt, da einige Vertreter nun in die Politik wechselten. Das hatte zur Folge, dass sich bei Teilen der Bevölkerung ein Misstrauen gegen den Staat zeigte. Korruptionsaffären, negative Transformationserfahrungen und enttäuschte Erwartungen bestätigten nur noch die neue Sichtweise. Schließlich erlebte die polnische Gesellschaft gleich eine dreifache Entzauberung im Vergleich zur Vorwendezeit:

- Der Zerfall des Solidarność-Lagers 1990 stellte einen Bruch des ethischen Codes der Vorwendezeit dar. Es fand eine gewisse Säkularisierung statt, da nun die Moral durch das politische Kalkül ersetzt wurde.

- Nach 1989 offenbarten sich sehr schnell enorme ökonomische Unterschiede und das Ausmaß dieses Phänomens stellte für viele einen Schock dar.

- Im Kontext der von Leszek Balcerowicz initiierten Reformen kam es noch zu einer dritten Entzauberung, und zwar zum Verdrängen der ökonomischen Ideen und Konzepte der Vorwendezeit. Bereits vor 1989 hatten sich Vertreter von Solidarność von den Vorstellungen der Arbeiterselbstverwaltung in der Wirtschaft verabschiedet und nach 1989 wurde die Idee einer sich selbst verwaltenden Republik ohne große Proteste von Seiten der Arbeiter sehr schnell beerdigt. Stattdessen begann nun im Rahmen der Privatisierung der Kampf um die genaue Ausführung eines Volkskapitalismus. Auch die Solidarność sprach sich in diesem Zusammenhang für eine breite Privatisierung aus, für eine Gewerkschaft wohl ein einmaliger Vorgang.

Das Erbe der Solidarność

Heutige Umfragen bestätigen die weitestgehende Akzeptanz der Transformation und die Zufriedenheit. Dennoch werden die Solidarność und der Runde Tisch heute eher als Niederlage gesehen.

„Es muss damit abschließend festgehalten werden, dass beide große Ideen der Solidarność und damit der polnischen Zivilgesellschaft nach 1989 nicht umgesetzt wurden. Gab es dazu jedoch Alternativen? Die Ausdifferenzierung des Solidarność-Lagers erfolgte nicht erst 1989/90, sondern nahm bereits in den Achtziger Jahren Gestalt an, sodass es zur Auflösung der Ethikgemeinschaft auf dem direkten Feld der Politik wohl keine Alternative gab. Dies gilt zweifellos nicht für die „wilde“ Privatisierung und ihre Begleiterscheinungen, für Klientelismus, Korruption und Verfall der Staatsautoritäten in den letzten Jahren. Eine konsequentere Umsetzung des zweiten Prinzips, der sich selbst verwaltenden Republik, mit stärkerer Bürgerbeteiligung bei Privatisierungsprozessen, Verwaltungsreformen oder Aufarbeitung der Vergangenheit - alles Dinge, die im Bereich des Möglichen gelegen haben - hätte womöglich auch die Enttäuschungen über den Verlust der Ethikgemeinschaft gemildert. Paradox ist, dass heute auch in westlichen Demokratien über normative Grundlagen von Demokratie und über deliberative Prozesse als Ausweg aus der Legitimationskrise liberaler Demokratien diskutiert wird. Wäre Polen stärker seinen eigenen Traditionen treu geblieben, würde es heute womöglich nicht diesen Prozessen hinterherlaufen, sondern sie mit prägen.

Der Blick auf die Entwicklung der polnischen Zivilgesellschaft hat m. E. aber auch erste positive Veränderungen in den letzen Jahren gezeigt, sodass ich verhalten optimistisch schließen möchte.“

(Auszüge aus dem Vortrag von Dr. Stefan Garsztecki, Universität Bremen)

Die Vorträge wurden auf der Tagung „Polen an der Schwelle zur Fünften Republik?“ der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e.V. am 12. April 2008 in Berlin gehalten