Brücken über die Görlitzer Neiße

 

Von Wolfhard Besser

 

Brücken spielen in Städten, durch die ein Fluss fließt, eine wichtige Rolle; verbinden  sie doch zwei oder mehrere Stadtteile. Noch wichtiger können Brücken sein, wenn sie zwei Städte verbinden. Beispiele gibt es einige in Deutschland. Brücken sind allerdings unerlässlich, wenn die Orte an einem Grenzfluss liegen wie an Oder und Neiße. Görlitz und Zgorzelec sind so ein Beispiel. In der über 900-jährigen Geschichte der  einst mittelalterlichen Stadt spielten sie immer eine unentbehrliche Rolle bei der Überquerung des Flusses für die  Ost-West-Handelsstraße Via Regia, der Königsweg bzw. die Reichsstraße, die vom Rheinland  über Erfurt, Leipzig, Görlitz bis nach Breslau führte.  In der  Zeit der Technikentwicklung war der Bau neuer Brücken über die Neiße notwendig, um den Zugverkehr in dieser Region zu fördern. So überspannten nach 1900 sieben Brücken  die Neiße, die allesamt dem faschistischen Wahn zum Opfer fielen und  im Ergebnis des II. Weltkrieges den Fluss zur Grenze machte, Görlitz zerfiel in einen deutschen und einen polnischen Teil.

 

Nach und nach wurden in den vergangenen 60 Jahren drei Brücken von deutscher und polnischer Seite wieder errichtet; die jüngste 2005. Diese drei Brücken bilden das Band der deutsch-polnischen Zusammenarbeit über die Neiße hinweg. Durch den Wegfall der Grenzkontrollen zu Jahresbeginn ist es nun noch einfacher.

Eine sporadische Zusammenarbeit der beiden Städte, Görlitz mit seinen gegenwärtig 57 000 und Zgorzelec mit ca. 40 000 Einwohnern, gab es schon seit den 70er Jahren. Deren Intensität hat allerdings nach der Wende zugenommen. Sie gibt es zwischen den Stadtverwaltungen, Kultureinrichtungen, Sportgemeinschaften, im wirtschaftlichen Bereich sowie mit Jugendklubs und Schulen. Auch in der Regierungszeit der Brüder Kaczyński, als die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland auf einen Tiefpunkt gesunken waren, ging das Zusammenwirken rechts und links von Neiße und Oder in kommunalpolitischen Dingen fast normal weiter. Zwar gäbe es hin und wieder Irritationen auf beiden Seiten, wie kürzlich der Görlitzer Kulturbürgermeister Ulf Großmann in einem Interview mit der Sächsischen Zeitung sagte, weil gerade in der Kommunalpolitik beider Länder unterschiedliche Auffassungen und Möglichkeiten bestehen. Wenn Bürgermeister bzw. Ratsmitglieder wechseln, muss manchmal das von ihren Vorgängern aufgebaute Vertrauen zueinander wieder neu aufgebaut werden. Ein Verbindungsglied besteht seit 13 Jahren zwischen der Europastadt Görlitz und Zgorzelec in einer Koordinierungskommission. In den verschiedenen Bereichen der Verwaltungen wird mit den polnischen Kollegen zusammengearbeitet, wobei es auch Schwierigkeiten zu meistern gilt, die sich z. B. in finanzieller Hinsicht ergeben, weil die Spielräume der polnischen Kommunen viel enger seien als hierzulande, erläuterte der Görlitzer Kulturbürgermeister im Zeitungsinterview. Es gibt Arbeitsgruppen beiderseits der Neiße, die sich bestimmten Aufgaben widmen, wie das Jugendbüro „Wir-My“ oder der Verein „My dla Zgorzelca“. In der Zeit der Bewerbung beider Städte als „Europäische Kulturhauptstadt 2010“ planten sie viele interessante gemeinsame Projekte, die bis zu diesem Zeitpunkt realisiert werden sollten. Nachdem die Stadt Essen den Zuschlag für die Kulturhauptstadt erhielt, sind alle diese Vorhaben erst einmal abgeblasen. Aber sie sollen nicht auf Eis gelegt werden. Deshalb strebt Görlitz eine enge Abstimmung mit der Nachbarstadt an, um die bereits geplante gemeinsame Stadtentwicklung der Europastadt Görlitz-Zgorzelec voranzutreiben.

Jenseits der Neiße soll ein Sportzentrum für 5000 Gäste entstehen; sicherlich auch mit viel Geld aus Brüssel. Dieses Vorhaben tangiert Görlitz, das ihre gesperrte marode Stadthalle, direkt am Grenzübergang gelegen, instand setzen will. Aber wäre das sinnvoll beim Neubau einer ähnlichen Einrichtung, nur wenige hundert Meter weiter entfernt, in der auch kulturelle Großveranstaltungen stattfinden sollen? Nachdem Görlitz ein Modellprojekt „Stadt 2030“ entwickelt hat, das z. B. auch die Verkehrsströme untersucht und beide Städte als Einheit sieht, sind jetzt die polnischen Kollegen daran gegangen, ein Stadtentwicklungskonzept zu erarbeiten.

In den kleinen Dingen des Alltags gibt es bereits seit Langem ein abgestimmtes Handeln. Gab es kürzlich z. B. zwischen den ähnlich strukturierten Städten Frankfurt/ Oder und Słubice Streit darüber, ob man einen gemeinsamen Nahverkehr zwischen den beiden Orten einrichten sollte, fährt zwischen Görlitz und Zgorzelec an den Werktagen eine ständige Buslinie im 30-Minuten-Takt. Und das schon seit fast zehn Jahren. Ein ständiges Zusammenspiel gibt es auch auf kulturellem und sportlichem Gebiet. Im Laufe der Zeit hat sich eine Vielzahl von gemeinsamen Unternehmungen entwickelt. Gerade ist die erste größere Veranstaltung vorüber: Der Europa-Marathon 2008 Görlitz-Zgorzelec, ein Lauf durch zwei Länder. Mitte Juni veranstaltete Görlitz das „3. Schlesische Heimatfest“, an dem auch Gruppen und Solisten aus der Wojewodschaft Dolny Śląsk beteiligt waren, und zudem sich die ca. 100 km entfernte Stadt Legnica (Liegnitz) präsentierte. Gegenwärtig werden letzte Vorbereitungen für das internationale „Fete de la Musique“ getroffen - ein Fest der Musik auf den Straßen und Plätzen der Europastadt, gestaltet vom Musiktheater Oberlausitz Görlitz in Kooperation mit dem Dom Kultury Zgorzelec. In diesem Jahr beteiligen sich 35 Gruppen aus vielen Ländern; fünf kommen aus dem Nachbarland Polen. Wobei hier vor allem die persönlichen privaten Kontakte ausschlaggebend für die aktive Teilnahme polnischer Musiker sind, denn es ist offensichtlich etwas problematisch, einfach so ohne Honorar auf der Straße zu spielen. Straßentheater gibt es vom 31. Juli bis 3. August in der Europastadt sowie auch in Jelenia Góra (Hirschberg) und Zawidów (Seidenberg). Zum 14. Male spielen und tanzen internationale Künstler und Gruppen auf den Straßen und Plätzen dieser Städte, führen Spielszenen auf, auch im Zusammenwirken mit Jelinia Góra, der Stadt im Hirschberger Tal.

Weitere gemeinsame Feste stehen im Spätsommer an. Das Altstadtfest 2008, das auf der polnischen Seite unter dem Motto „Jakuby Zgorzelec 2008“ läuft (vom Fest 2007 berichtete POLEN und wir im Heft 1/2008). Im September laden beide Städte zum Entdeckungstag am „Tag des offenen Denkmals“ ein, an dem viele historische Gebäude diesseits und jenseits der Neiße besichtigt werden können. Und eine Woche später präsentieren sich sechs Görlitzer und zwei Zgorzelecer Museen zur „Langen Nacht“. Eine Besonderheit bietet das Görlitzer Theater seit einiger Zeit. Mehrmals monatlich stehen Opern und Schauspiele auf dem Programm, deren Dialoge die für Besucher aus der Nachbarstadt in polnischer Sprache auf einem Schriftband über der Bühne erscheinen. Ein Angebot, das gern angenommen wird.

Ein anderes Projekt widmet sich Schulkindern aus der Region Zgorzelec. Schon das vierte Jahr können sie das Naturkundemuseum von Görlitz kostenlos besuchen. Dieses Jahr werden ca. 600 polnische Kinder erwartet; 2700 haben die einmaligen Ausstellungsstücke schon gesehen und viel Interessantes über Fauna und Flora Niederschlesiens und der Oberlausitz erfahren. Auch im Sport sind enge Kontakte entstanden zwischen verschiedenen Clubs und Sportvereinigungen. Der schon erwähnte Marathonlauf ist ein Beispiel. Jüngst veranstalteten die Görlitzer Basketballer eine gemeinsame Aktion mit Teams aus der Nachbarstadt und aus dem 20 km südlich gelegenen Energiezentrum Turów.

Der Beispiele ließen sich noch einige nennen. Bei all diesen Unternehmungen spielen die Brücken zwischen den beiden Städten die entscheidende Rolle; ohne sie käme man nicht zueinander. So kann behauptet werden, dass die deutsch-polnische Doppelstadt mit ihrer Zusammenarbeit modellhaft europäisches Zusammenwachsen vorlebt. So ehrt sie seit 1993 Persönlichkeiten, die sich in besonderer Weise um die europäische Verständigung verdient gemacht haben mit dem „Internationalen Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec“. Im vergangenen Jahr erhielt den Preis der estnische Komponist Arvo Pärt; zuvor u. a. Marion Gräfin Dönhoff (1993), Adam Michnik (1997) und Prof. Dr. Władisław Bartoszewski (2002). Wer es 2008 sein wird ist noch nicht bekannt. Fest steht aber: Über die Neiße werden weiterhin menschliche Brücken gebaut.