Sommerkapriolen

 

Von Holger Politt

 

Das politische Sommertheater Polens begann in diesem Jahr mit einem Verhör. Der Staatspräsident befragte den Außenminister hochnotpeinlich: „Sind sie Dolmetscher?“ Der Außenminister entgegnete: „Ich verstehe den Sinn der Frage nicht?“ Der Staatspräsident noch entschiedener: „Ich frage noch einmal, sind sie Dolmetscher?“ Nachdem Radosław Sikorski, der Minister, erneut eine das Staatsoberhaupt zufrieden stellende Antwort schuldig blieb, gab der Staatspräsident, Lech Kaczyński, folgende Anweisung: „Bitte zu Protokoll nehmen: Er verweigert die Antwort auf die Frage, ob er Dolmetscher ist.“ So sprachen Anfang Juli in Warschau zwei Männer miteinander, die augenblicklich in Sachen Außenpolitik zu den einflussreicheren Leuten des Landes gehören.

 

Den höchsten Mann des Staates trieb die Sorge um, dass in Sachen US-amerikanisches Raketenschild die Tusk-Regierung die Verhandlungen mit den USA eher verzögere, gar erschwere, indem von Seiten des Außenministers immer wieder zusätzliche Forderungen nach Sicherheitsgarantien für das Land vorgebracht würden. Lech Kaczyński vermutete hier gar finstere Kräfte am Werk, die gegen die Landesinteressen wirkten, bei denen Außenminister Sikorski - übrigens ganz gleich ob als Dolmetscher oder nicht - seine Finger im Spiel hätte haben könnte. Dass am Ende der Sommerferien die Dinge bereits gerichtet sein würden, konnten zum Zeitpunkt des Verhörs weder der Staatspräsident noch sein Gegenüber ahnen.

In seriösen Umfragen erklärte Eingangs des Sommers immer noch eine satte Mehrheit ihren Widerspruch zu den Plänen, in Polen Teile eines US-Raketenabwehrschildes zu installieren und in diesem Zusammenhang in Nordpolen eine größere US-Basis aufzubauen. Für die PiS-Führung ein Hinweis darauf, wie wenig ernsthaft unter der Tusk-Regierung in dieser Frage zu Werke gegangen werde. Außenminister und Premier indes brachten als schweres Argument in die Rede, dass eine Installierung des Raketenschildes erst möglich werde, nachdem Polen zusätzliche Sicherheitsleistungen - also weiteres US-Militärpersonal zum Schutz gegen nicht auszuschließende Angriffe auf die geplante Anlage - garantiert würden. Lech Kaczyński wollte die Entscheidung der polnischen Seite davon nicht abhängig sehen, war ihm doch alleine die umgesetzte Absicht bereits Sicherheit genug. Er verlangte die schnelle Unterschrift, mit der Polen sich erneut als treuer und zuverlässiger Verbündeter der USA beweisen könnte.

Nach innen gerichtet überwand er auch deshalb seine Skrupel als Staatspräsident, der ja von Amts wegen ein wenig über den parteipolitisch zugerichteten Dingen stehen sollte, und erklärte im Zusammenhang mit den öffentlichen Würdigungen des Ausbruchs des Warschauer Aufstands vom August 1944, wo er den Hort für den richtigen Patriotismus vermutet: „Ich denke, es gibt einen bestimmten Unterschied zwischen jenem politischen Lager, aus dem ich stamme, auch wenn ich die ganze Gesellschaft repräsentiere, und dem gegenwärtig regierenden Lager. Und dass vor allem solche Werte wie Patriotismus, nicht Nationalismus, sondern einzig Patriotismus, bei jenen lebendiger sind, die von 2005 bis 2007 regierten. Das ist meine tiefe Überzeugung. Natürlich werde ich beschuldigt werden, dass ich mir ein Monopol auf den Patriotismus anmaße, aber ich maße mir keinerlei Monopol an, doch ein Patriot hat man einfach zu sein.“

Den Warschauer Aufstand, der in der Lesart des von ihm so ausdrücklich gelobten „patriotischen Lagers“ in erster Linie ein antistalinistischer oder antisowjetischer gewesen war, weshalb er zu den wichtigsten Schlachten des 20. Jahrhunderts zu rechnen sei, versteht er moralisch gesehen als Vermächtnis, bereit zu sein, im Leben für patriotische Ziele richtig zu kämpfen. Wenige Tage später gab ihm aktuelles Weltgeschehen die Möglichkeit, die These in der Praxis zu überprüfen. Um seine Solidarität mit Tbilissi zu bekunden, zog es ihn unmittelbar nach dem Ausbruch des bewaffneten Kaukasus-Konfliktes zwischen Georgien und Russland in die georgische Hauptstadt. An Bord der polnischen Präsidentenmaschine befanden sich neben dem polnischen Staatsoberhaupt auch die Präsidenten Litauens, Estlands und der Ukraine, dazu der Ministerpräsident Lettlands. Unter den Passagieren war auch Außenminister Sikorski zu finden, den Staatspräsident Kaczyński diesmal nicht verdächtigte, Dolmetscher zu sein. In Tbilissi riss die Stimmung auf einem Massenmeeting Polens Staatsoberhaupt so mit, dass er ohne diplomatische Rücksicht erklärte, er sei bereit, zu kämpfen. Russland, so die knappe Analyse, zeige aller Welt, wie es seit Jahrhunderten mit seinen Nachbarn umgehe und umzugehen gedenke.

Auf diesen Affront angesprochen, meinte Aleksander Smolar, einer der führenden Politikwissenschaftler Polens, recht unmissverständlich: „Der unmittelbare Zusammenhang, der bei Kaczyński zwischen der Tradition des Warschauer Aufstands und seiner Vision der gegenwärtigen polnischen Politik besteht, erschreckt mich sehr. In den durch Kaczyński in Tbilissi geäußerten Worten ist ein gewisses Syndrom des Warschauer Aufstands sichtbar, welches allerdings durch die klügsten Leute der Nach-Jalta-Emigration kritisiert worden ist und die völlige Nichtberücksichtigung des komplizierten Maßes von politischem Realismus betrifft.“

Und doch kann Lech Kaczyński einstweilen sich zu Gute halten, dass seine Lektion in Sachen Patriotismus im innern des Landes durchaus auf fruchtbaren Boden fiel. Während vor dem Ausbruch des Kaukasus-Konflikts zwischen Georgien und Russland im Zusammenhang mit dem geplanten Raketenschild in den meisten polnischen Medien immer wieder und beinahe an erster Stelle betont wurde, es handle sich in keinem Falle um einen Rüstungsvorgang, der gegen Russland gerichtet sei oder russische Interessen berühre, wurde nun im Zusammenhang mit dem Kaukasus-Konflikt das Gespenst eines erhöhten Sicherheitsrisikos für Polen gemalt, welches sich aus der Tatsache der unmittelbaren Nachbarschaft zu Russland ergebe. Wenn Russland also mit seinen Nachbarn so verfahre, wie im 19. oder 20. Jahrhundert, müsse Vorsorge getroffen werden. Selbst Adam Michnik, Chefredakteur der einflussreichen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und alles andere als ein Freund der politischen Linie der Kaczyński-Brüder, schrieb dieser Tage: „Für den unparteiischen Betrachter liegt auf der Hand, dass Russland heute auf den historisch erprobten Weg der zaristischen Autokratie und bolschewistischen Aggressivität zurückkehrt. Was bedeutet, dass der russische Staat seine Identität auf dem fortwährenden Konflikt mit den Nachbarn und mit anderen Beteiligten in der Welt aufbaut.“

Russland jedenfalls, so machen aktuelle Umfragen im August 2008 deutlich, ist in den Augen eines Großteils der Öffentlichkeit Polens zu einem Land aufgestiegen, von dem Polen die größte Gefahr drohe. Und eine Mehrheit glaubt nunmehr, dass die Installation des US-Raketenschilds dieser Gefahr Einhalt gebieten werde. Die Stationierung mehrerer Hundert US-Soldaten würde, eine andere Sicherheitslage schaffen. Und so steht im Ergebnis etwas, worüber sich Staatspräsident und Außenminister, in dieser Frage gleichen Sinnes, freuen dürften, nämlich eine Stimmungslage, die das Hochschrauben der Rüstungsspirale akzeptiert.