Schwere Zeiten für die Ameisen

 

Sechs Monate nach Polens Beitritt zum Schengenraum leiden vor allem ukrainische Kleinhändler

 

Magdalena Gwóźdź

 

Das ukrainische Dorf Scheginie liegt unmittelbar an der Grenze zu Polen. Seine Bewohner blicken jeden Tag auf die andere Seite - ohne sie betreten zu können. Denn ein Visum für 35 Euro kann sich hier kaum jemand leisten. Die meisten Dorfbewohner waren zuletzt im Dezember 2007 auf der anderen Seite der Grenze, bevor Polen dem Schengenraum beitrat. Feierlaune über das erweiterte Europa sucht man hier vergeblich. Kein Wunder, hat die Ukraine doch mit Polen - anders als mit Ungarn - noch kein Abkommen über den kleinen Grenzverkehr ausgehandelt.

 

Um eine Familie gut über die Runden zu bringen, braucht man in dieser Region etwa vierhundert Euro pro Monat, erzählt eine Supermarktverkäuferin in Scheginie, dem zehn Kilometer vom polnischen Przemyśl entfernten Grenzdorf. Doch kaum einer hier hat einen Job, mit dem er so viel verdient. Dem Geschäft gegenüber wohnt in einem Holzhaus der ehemalige Polizeikommandant Miron. Der mittlerweile pensionierte Mann bekommt einhundert Dollar Rente. Von diesem Geld müssen er und seine Frau über die Runden kommen - und von dem, was auf dem halben Hektar Land wächst, den sie besitzen. Obwohl ihr Haus keine hundert Meter hinter dem Grenzpfosten steht, darf Miron nicht in die Europäische Union reisen.

Auch auf der polnischen Seite der Grenze ist die Stimmung schlecht. Etwa in Hrebenne, einhundert Kilometer weiter nördlich. Viele Ukrainer leben hier, die meisten treffen sich sonntags in der griechisch-orthodoxen Kirche. Nach dem Gottesdienst plaudert man über dies und das. Zum Beispiel über polnisch-ukrainische Ehen, die immer häufiger werden. „Aber die Ukrainerinnen, die zu unserem Gottesdienst kommen, haben aus Liebe geheiratet und nicht weil sie die polnische Staatsangehörigkeit wollten, wie ihnen viele derzeit unterstellen“, sagt eine ehemalige Lehrerin.

Das wichtigste Thema in den Gesprächen ist die bedrohte Existenz vieler Gemeindemitglieder. Am schlimmsten hat die Visumspflicht die so genannten Ameisen getroffen, sagt Igor, ein älterer Herr. Als Ameisen waren hauptsächlich ukrainische Hausfrauen und Kleinhändler unterwegs, die mehrmals täglich die Grenze überquerten, um mit Kleinwaren im Nachbarland zu handeln. In Polen verkauften sie ukrainische Zigaretten, in der Ukraine polnische Textilien. Jetzt geht das alles nicht mehr. „Dieses Schengen hat für uns nichts Gutes gebracht“, sagen die Dorfbewohner.

Auch der Handel in Polen beklagt Umsatzeinbrüche. Ob Möbelgeschäfte, Baumateriallager oder Fleischereien - alle geben an, seit Anfang 2008 bis zu 80 Prozent weniger verkauft zu haben. „Die Ukrainer haben früher viel in Polen gehandelt und hier auch einen Teil des verdienten Geldes wieder ausgegeben“, so Maria Pastorek, Verkäuferin in einer Metzgerei. „Unser Fleisch hat in der Ukraine einen sehr guten Ruf. Wir hatten Kunden, die jede Woche für die gesamte Verwandtschaft und Freunde Fleisch bei uns geholt haben“, erzählt sie.

Bevor Polen dem Schengenraum beitrat, waren unter den Grenzgängern zwischen der Ukraine und Polen 96 Prozent Ukrainer. Fünf Millionen Ukrainer haben im vergangenen Jahr die polnische Grenze überquert, von Januar bis April dieses Jahres waren es dem polnischen Grenzschutz zufolge weniger als 600.000. Inzwischen sind es hauptsächlich Polen, die in die Ukraine reisen, um einzukaufen oder zu tanken.

Für die Grenzbeamten hat sich seit Ende Dezember einiges geändert. Vor allem haben sie mehr zu tun. „Seit Anfang 2008 ist die Grenzkriminalität deutlich gestiegen und wir erzielen mit unserer Arbeit viel bessere Resultate als noch vor einem halben Jahr“, sagt Boguslaw Slazyk, Kommandant am Grenzübergang in Medyka. Die offiziellen Angaben des polnischen Grenzschutzes bestätigen ihn: Während 2007 insgesamt 1.047 Ukrainer versucht haben, illegal nach Polen zu gelangen, wurden allein im ersten Quartal dieses Jahres 687 illegale Grenzübertritte festgestellt.

„Die Ukrainer bilden aber nur eine kleine Gruppe unter denjenigen, die die Grenze illegal passieren wollen. Die meisten kommen aus anderen Ländern, zum Beispiel Moldawien. Sie fälschen rumänische oder bulgarische Dokumente, zeigen auf der ukrainischen Seite ihre Originalpapiere und in Polen die gefälschten. Seit der Schengenerweiterung hat sich die Zahl von Personen mit gefälschten Papieren verdoppelt“, berichtet Slazyk.

Um illegale Grenzübertritte zu verhindern, wurde mit dem Schengenbeitritt Polens die Sicherung der Grenze modernisiert. „Heute bedient man sich hier des SIS (Schengen Information System) - einer Datenbank, die ganz Europa miteinander verbindet und hilft zu kontrollieren, ob eine Person gesucht ist“, erläutert Elżbieta Pikor vom Grenzschutz in der Grenzregion Bieszczady.

Zufrieden mit der neuen Situation sind allein die polnischen Markthändler, für die die Ukrainer eine harte Konkurrenz waren. Seitdem sie nicht mehr kommen, verkaufen polnische Händler mehr und können höhere Preise verlangen. „Es ist gut, dass sie nicht mehr hier sind“, gibt eine polnische Händlerin offen zu. „Die Ukrainer haben weder Standgebühren noch Steuern gezahlt, deshalb konnten sie die Preise drücken.“ Da die Polen trotz Schengenerweiterung kein Visum für die Ukraine brauchen, sind jetzt viele von ihnen selbst zu so genannten Ameisen geworden. Wenn man auf dem Markt ist, hört man sie flüstern: „Alkohol, Zigaretten, Zigaretten, Alkohol...“

Das wird sich erst ändern, wenn Polen mit der Ukraine Regelungen über den kleinen Grenzverkehr trifft. Wann und für welches Gebiet der visumfreie Verkehr dann möglich sein wird, entscheidet die Europäische Kommission. Im Moment liegt ein Antrag vor, eine Entscheidung darüber wird jedoch nicht vor dem Herbst erwartet.

Entlang der polnisch-ukrainischen Grenze werden mit dieser Entscheidung viele Hoffnungen verbunden. So wünscht man sich, dass durch die neue Regelung alle, die 50 Kilometer von der Grenze entfernt wohnen, kein Visum mehr brauchen, um in die polnische Grenzregion zu fahren. Auch der pensionierte Milizkommandant Miron aus Scheginie hofft, dass visumfreies Reisen bald möglich ist. „Dann würde man auch wieder glauben, dass die Nähe zu Europa etwas Gutes bringt.“