Die
Schmuddelkinder stehen auf
Stahl,
Plattenbauten und viele Vorurteile: Ein ungeliebter Stadtteil Krakaus
emanzipiert sich
Von Mark Brüggemann
Allee der Freundschaft, Siedlung der Jugend, Siedlung der Eintracht -
viele der Straßen-, Siedlungs- und Gebäudenamen im Krakauer Stadtteil Nowa Huta erinnern an
DDR-Nostalgiefilme wie „Goodbye Lenin“ oder
„Sonnenallee“. Andere Namen wie die Allee Johannes Pauls II.,
die Unabhängigkeitssiedlung oder die Solidarność-Allee sind heute
auch in jeder anderen polnischen Stadt zu finden. Nowa
Huta, zu Deutsch „Neue Hütte“, sucht seit der Wende
1989 nach seiner Identität - und sollte sich etwas beeilen, denn im kommenden
Jahr steht das sechzigjährige Jubiläum des gigantischen sozialistischen
Städtebauprojekts an.
Streng genommen begann alles
bereits um die Jahreswende von 1946 zu 1947: Sowjetdiktator Josef Stalin machte
einem befreundeten Staatsoberhaupt aus dem sozialistischen Lager - in diesem
Fall dem Polen Bolesław Bierut - wieder einmal
einen Vorschlag, der schlecht abgelehnt werden konnte. Ein riesiges Stahlwerk
sollte errichtet werden, um die Industrialisierung Polens so schnell wie
möglich voranzutreiben und vor allem die Rüstungsindustrie zu entwickeln. Über
den Standort des geplanten Kombinats war man sich anfangs unklar. Nahe liegend
wäre es gewesen, dieses im Oberschlesischen Revier zu bauen, und Gleiwitz wurde auch tatsächlich in Erwägung gezogen. Doch
der Krieg lag noch nicht lange zurück, und man fürchtete, um die Früchte der
sozialistischen Aufbauarbeit gebracht zu werden, sollte man die von Deutschland
hinzugewonnenen Gebiete wieder verlieren.
Nachdem sowjetische und polnische
Experten verschiedene Optionen geprüft hatten, fiel die Wahl auf den Nordosten
Krakaus. Die Landbevölkerung, die hier in ärmlichen Verhältnissen lebte, musste
dem Großprojekt weichen. Nicht nur ein Stahlwerk war geplant, sondern der Bau
einer kompletten neuen Stadt, die vom benachbarten Krakau völlig unabhängig
funktionieren sollte. Dafür wurden Arbeiter in großer Zahl benötigt. „Das war
so ein bisschen eine Stimmung wie bei der Eroberung des Wilden Westens“, sagt
Leszek Sibila, Leiter der Abteilung Nowa Huta im Krakauer Museum für
Stadtgeschichte. „Alle möglichen Menschen sind hierher gekommen - Verbannte aus
Sibirien, KZ-Überlebende, Polen aus der polnischen Emigration im Westen,
ehemalige Angehörige der antikommunistischen Heimatarmee und viele andere.“
Neben ungelernten Arbeitern wurden vor allem Spezialisten benötigt - und bei
diesen achteten die Behörden nicht so genau auf deren politische Vergangenheit.
Die Arbeitsbedingungen in den
ersten Jahren waren äußerst hart - und Berichte über Alkoholismus, Schlägereien
und sexuelle Übergriffe gehörten auf der gigantischen Baustelle zur Normalität.
Nicht jeder hielt durch. „Diejenigen, die beim Aufbau von Nowa
Huta nicht klar gekommen sind, sind wieder
weggezogen. Geblieben sind die, die einen Sinn in ihrer Arbeit hier gesehen
haben“, erklärt Leszek Sibila.
Für viele der Arbeiter, die vor
allem unter der armen polnischen Landbevölkerung angeworben wurden, war Nowa Huta in der Folgezeit eine
Geschichte sozialen Aufstiegs. „Sie lernten manchmal überhaupt erst Lesen und
Schreiben“, so Leszek Sibila. Und in den ersten
Jahren des Aufbaus gab es die Wohnungen noch umsonst. „Wenn Häuser fertig
wurden, bekamen besonders verdiente Arbeiter die Wohnungsschlüssel überreicht
und zogen ein.“ Die Tüchtigsten wurden vom System auf jede nur erdenkliche Art
gehätschelt, zu Empfängen in Warschau und ganz Polen eingeladen. Die polnische
Staatsführung war stolz auf das 1954 fertig gestellte Lenin-Stahlwerk und die
darum entstandene sozialistische Musterstadt und lud gern ausländische
Delegationen nach Nowa Huta
ein. Zu den Gästen zählten Nikita Chruschtschow, Tito und Indira Gandhi.
Eins hatten die sozialistischen
Städteplaner Nowa Hutas in
ihrer Utopie vom neuen Menschen allerdings nicht vorgesehen: Gotteshäuser. Der
Unmut darüber wuchs unter den katholischen Arbeitern von Jahr zu Jahr. Erst
1977, auf Druck des damaligen Krakauer Erzbischofs und späteren Papstes
Johannes Pauls II., konnte die erste Kirche gebaut werden. Sie trägt den Namen
„Arche des Herrn“, sieht aus wie ein riesiger steinerner Schiffsrumpf und ist
eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Nowa Hutas. Wie religiös die Mehrheit der Arbeiter war, zeigt
sich auch daran, dass Nowa Huta
Anfang der 1980er Jahre eine Hochburg der Solidarność-Bewegung war.
Nach 1989 wurde der Stadtteil
Krakaus, in dem mehr als 200.000 Einwohner lebten, vernachlässigt. Einst
staatliche Unternehmen mussten schließen, die Arbeitslosigkeit wuchs. Größter
Arbeitgeber ist noch immer das Stahlwerk, das heute einem indischen Konzern
gehört. Manche Einwohner Nowa Hutas
sehen den Grund dafür, dass ihr Viertel von der Krakauer Stadtverwaltung so
stiefmütterlich behandelt wird, in typischen Krakauer Vorurteilen und Mythen
über das Stahlviertel.
Zu den schärfsten Kritikern
solcher Vorurteile zählt der 32-jährige Maciej Twaróg, der in Nowa Huta das Café „1949 Club“ betreibt. Er ärgert sich darüber,
dass viele Krakauer sich übertrieben intellektuell geben und dabei auf die
vermeintlich ungebildeten, schmutzigen Arbeiterkinder von Nowa
Huta herabsehen. Erst recht nicht mehr hören kann er
die in fast jedem Stadtführer zu findende Aussage, die Kommunisten hätten Nowa Huta im Nordosten Krakaus
gebaut, um das bürgerliche, intellektuelle Krakau zu bestrafen. „Es gibt kein
einziges Dokument, das diese Behauptung belegt“, empört sich Twaróg. Auch die Klagen darüber, wie sehr die Emissionen
des Stahlkombinats die Krakauer Baudenkmäler zerstört hätten, ärgern ihn. „Der
Wind wehte meistens von West nach Ost. Daher wurde die Krakauer Innenstadt gar
nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen“, sagt er.
Seinen „1949 Club“ in der
Sonnensiedlung (Osiedle Słoneczne)
sieht Marcin Twaróg als
einen Beitrag dazu, in Nowa Huta
eine selbstbewusste Alternativkultur zu organisieren und das Image der
kommunistischen „Schmuddelstadt“ loszuwerden. Das Café, das Twaróg
2006 zusammen mit einem anderen jungen „Nowohutaner“
gegründet hat, soll einerseits Treffpunkt für Einheimische sein, die sich mit
ihrem Viertel identifizieren. Andererseits bietet es aber auch Touristen
Informationen und Souvenirs - ob es nun eine Filmvorführung, ein T-Shirt mit
Leninporträt und der Aufschrift „I love Nowa Huta“ oder die Geschichte
von Nowa Huta in Comicform
ist. Auch ausländische Touristen entdecken den Stadtteil in letzter Zeit
häufiger für sich - zuletzt etwa eine Gruppe amerikanischer
Pharmazie-Professoren. Sie logierten im teuersten Hotel Krakaus, erzählt Twaróg, wollten aber unbedingt Nowa
Huta sehen.
Darüber, wie man das 2009 anstehende 60-jährige Jubiläum des Stadtteils begehen sollte, debattieren die Einwohner seit geraumer Zeit in der Lokalausgabe der Zeitung „Gazeta Wyborcza“. Die einen wollen die Aufbauleistung der ersten Arbeiter stärker in den Vordergrund stellen, andere den Widerstand gegen das kommunistische System. Und wieder andere fordern „60 Kilometer neue Bürgersteige zum 60-jährigen Jubiläum!“. Welche dieser Vorschläge sich durchsetzen, wird sich zeigen.