„To be!“

 

Zum Tod von Józef Szajna

 

Von Christoph Öhl

 

Nach einer kurzen Suche auf dem Powązki Friedhof in Warschau frage ich doch bei der Friedhofsverwaltung nach dem Grab von Józef Szajna. „14-3-11“ - ebenso knapp wie freundlich klingt die prompte Antwort. Ein Schauer durchläuft mich. War Józef Szajna etwa doch wieder zur Nummer geworden? Sein Leben lang hat er gegen den Verlust der Identität gekämpft. Aber wie soll das Grab eines Mannes aussehen, dessen Leben und dessen Werk so sehr vom Tod gezeichnet waren? Fast überrascht mich die anheimelnde Wärme, die das noch frische Grab, bedeckt mit Tannenzweigen und Rosen und mit dem schlichten Holzkreuz zwischen den ehrwürdigen steinernen Grabmalen ausstrahlt. Doch erinnert sie vor allem an eins: Professor Józef Szajna war nicht nur ein bedeutender und mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Künstler und Theatermacher, sondern er war vor allem ein Mensch.

 

1922 wird Joseph Szajna in Rzeszów geboren. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen nach Polen schließt er sich 17-jährig einer Widerstandsbewegung an. 1941 wird er von der Gestapo verhaftet und nach einigen Monaten in diversen Gefängnissen ins Konzentrationslager Auschwitz überführt. Dort wird er zum Häftling Nummer 18729. Dem Verlust der Identität durch die bloße Zuweisung einer Nummer folgt der Verlust des Menschseins durch die menschenunwürdige Behandlung im Lager. Millionen von Häftlingen werden ermordet oder sterben in den Steinbrüchen. Doch Szajna überlebt die Strafkolonie, Krankheiten und sogar seine bereits angesetzte Hinrichtung für einen Fluchtversuch, weil seine Todesstrafe spontan in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wird. Vier Jahre verbringt er in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und später Buchenwald. Seine Erlebnisse werden zu einer metaphysischen Erfahrung. Er überlebt seinen eigenen Tod, wie er es selbst ausdrückt.

Sein Überleben begreift er auch als Verpflichtung zum Leben. 1985 zieht er den Vergleich zum shakespeareschen „to be or not to be“ - und ändert es in „to be!“. Die Pflicht zu Leben ist für ihn gleichbedeutend mit einer Pflicht zur Aktivität. Und dieser Aktivität verleiht er durch künstlerische Tätigkeit Ausdruck. Bereits in Birkenau beginnt er zu zeichnen. Und in Buchenwald fängt er mit einfachen Mitteln (Kohle auf Papier) den Lageralltag in eindrucksvollen Bildern ein. Dabei entwickelt er die Grundformen, die seine gesamte künstlerische Tätigkeit bestehen werden: Eine menschliche Silhouette, die universell und gleichzeitig individuell wirkt. Gesichter sind entweder Fingerabdrücke oder werden lediglich durch Punkte angedeutet.

Nach dem Krieg bleibt er in Deutschland, macht sein Abitur und kehrt erst 1947 nach Polen zurück, um an der Kunstakademie in Krakau Malerei und Bühnenbild zu studieren.

Nach ersten Arbeiten in Rzeszów wird er von den Regisseuren Krasowski und Skuszanka 1952 als Bühnenbildner an das Teatr Ludowy in Nowa Huta engagiert. Außerdem wird er Dozent an der Kunstakademie. In seiner gemeinsamen Arbeit mit Jerzy Grotowski 1962 in Opole bei der Inszenierung von Wyspiańskis „Akropolis“ schafft Szajna zum ersten Mal ein Bühnenbild, das den Terror der Konzentrationslager aufgreift. Im selben Jahr übernimmt er die Leitung des Teatr Ludowy und beginnt mit Gogols „Revisor“ selbst zu inszenieren. Auch als Bildender Künstler ist er erfolgreich und wird 1970 als einziger Pole zur Biennale nach Venedig eingeladen, wo er sein Environment „Reminiszenzen“ zeigt, ein Denkmal, das an die Verschleppung und Ermordung von 169 Krakauer Künstlern durch die Nazis erinnert. Der Raum ist gefüllt mit leeren Staffeleien und zahlreichen Silhouetten, die nun nicht nur zweidimensional, sondern als räumliche, überlebensgroße Figuren im Weg stehen. Der Betrachter ist aufgefordert, sich im Raum zu bewegen, auch durch die Hohlformen der Silhouetten zu gehen und die nach dem Verschwinden der Künstler verbliebene Lücke selbst zu schließen. Ein großes Porträtfoto aus Auschwitz von dem Krakauer Kunstprofessor Ludwik Puget bildet den Mittelpunkt des Environments. Große Kopien von Auszügen aus den von den Nazis akribisch geführten Listen über die Transporte befinden sich an der Wand.

Aus „Reminiszenzen“ schafft er in den Folgejahren „Replika“, seine wohl bekannteste Theaterinszenierung. Dafür entfernt er fast sämtliche konkrete Bezüge zu den Krakauer Künstlern und errichtet stattdessen einen Hügel aus schäbig wirkendem Material, Schmutz und Papier, aber auch Schuhe, Haare, Prothesen. Aus diesem Hügel kriechen Wesen, die wie Überbleibsel einer zerstörten Zivilisation wirken. „Menschenmüll“ sagt er später. Sprachliche Äußerungen gibt es fast keine, und erst am Ende erscheint durch ein langes Band von Porträtbildern aus Auschwitz der direkte Verweis auf die Konzentrationslager. Dennoch bleibt „Replika“ in der Aussage universell. Uraufgeführt wird „Replika“ 1972 in Edinburgh, und erst eine weitere Version davon („Replika IV“) wird am Teatr Studio in Warschau gezeigt, das Szajna seit 1971 leitet.

Diese radikale Vermischung von Bildender Kunst und Theater sprengt alle Gattungskonventionen. Szajna ist wie Tadeusz Kantor Hauptvertreter dieses polnischen Bildertheaters. Wie auch bei Kantor sind die Grenzen zwischen seinem künstlerischen und seinem theatralen Schaffen fließend, was besonders bei „Replika“ deutlich wird. Auf der Bühne gibt es die gleichen Bilder und Symbole; auch die Silhouette ist wieder da. Der Vorwurf der Wiederholung, der Szajna oft gemacht wurde, ist nicht von der Hand zu weisen. Jedoch hat die Reduzierung auf wenige Elemente einen dramaturgischen Sinn. Szajnas Bildertheater erklärt sich nicht über eine rationale Ebene, sondern arbeitet emotional. Gleichzeitig bleiben die Inhalte so universell, dass eine konkrete Zuordnung nicht möglich ist. Dagegen wirken die Figuren und Gegenstände auf der Bühne gar nicht abstrakt. Sie wirken schmutzig, schäbig, kaputt und versehrt, gehören der Realität des niedrigsten Ranges (Kantor) an und weisen einen engen Kontakt zur Materie (Szajna) auf. In dieser schäbigen (Bühnen-)Wirklichkeit werden elementare Fragen fast zwangsläufig metaphysisch. Immer geht es dabei um den Menschen. Denn dieser steht im Mittelpunkt von Szajnas Werk. All seine Stücke behandeln universell menschliche Fragen. Auch wenn sie auf literarischen Werken basieren, stellen sie keine Drameninszenierungen dar. Sie zeigen eher allgemeine Haltungen des Menschen („Cervantes“, 1976), seine Zweifel („Faust nach Goethe“, 1971) und seine leidenschaftliche Suche nach Wahrheit („Dante“, 1974). Omnipräsent sind dabei der Tod und die bedrohliche Erinnerung an Auschwitz, meistens in Form der Silhouette.

1982 (nach Ausrufung des Kriegsrechts in Polen) zieht sich Szajna vom Theater und von seiner Professur, die er seit 1972 an der Warschauer Kunstakademie inne hatte, zurück. Sein Engagement gilt seither hauptsächlich dem Museum Auschwitz und der Gedenkstätte Buchenwald. Außerdem arbeitet er weiterhin als Künstler und als Regisseur. Er erhält mehrere Ehrendoktortitel und zahlreiche Preise sowohl für seine künstlerische Tätigkeit als auch für sein gesellschaftliches Engagement, obwohl diese Unterscheidung bei Szajna schwer zu treffen ist.

Was Szajna in den Konzentrationslagern erlebt hat, lässt ihn sein ganzes Leben nicht mehr los und zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. Ihn jedoch auf diese Märtyrerrolle zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht. Seine Biografie ist zwar sicherlich auch ein Grund für seine steile Karriere. Doch Szajna geht es um mehr: Kunst und Theater brauchen eine gesellschaftliche Relevanz, brauchen einen Gegenwartsbezug, müssen sich mit aktuellen Fragen auseinandersetzen. Dazu genügt es nicht, eine „Erinnerungskunst“ zu schaffen. Szajnas Theater ist eben keine Darstellung des Naziterrors oder seines persönlichen Martyriums als Bespiel für das Leiden des gesamten Volkes. Szajna hält keine didaktischen Plädoyers, stellt keine Forderungen nach der Wiederherstellung alter Ordnungen oder gar Wiedergutmachungsansprüche. Im Zentrum von Szajnas Schaffen steht der Mensch, nicht die Welt. Es geht Szajna um die tiefere Menschlichkeit. Menschlichkeit als Idee, als Konzept, letztlich als moralischen Maßstab. Die Bedeutung, die er dem Menschen verleiht, macht ihn zum Humanisten. Er hat als Überlebender von Auschwitz, das den Zusammenbruch sämtlicher humanistischer Werte darstellt, die Verantwortung übernommen, weiter zu leben. Und die ist er seither bemüht weiterzugeben. So versucht er, mit seiner Kunst, seinem Theater und gleichsam mit seinem Engagement um Erinnerung und Versöhnung Betrachter, Zuschauer und Mitmenschen ebenfalls zur Übernahme von Verantwortung zu bewegen, zur Aktivität, letztlich zum Leben.

Sein jüngstes Projekt, die Errichtung eines Erinnerungs- und Versöhnungshügels auf dem Gelände des Museums Auschwitz, ist noch nicht abgeschlossen.

Am 24. Juni 2008 verstarb nun Józef Szajna im Alter von 86 Jahren.

Möge er in Frieden ruhen.

 

Christoph Öhl wurde 1978 im Saarland geboren und studierte zunächst Bühnentanz, dann Theaterwissenschaft. Nach einem Studienaufenthalt (Erasmus) 2001/2002 an der Jagiellonen Universität in Krakau setzte er sein Studium in Leipzig fort und schloss es 2006 mit einer Magisterarbeit über Józef Szajna ab. Seitdem ist er als Dramaturg für  Tanztheater und Schauspiel an verschiedenen Theatern tätig.

 

Abbildungen aus: überleben und widerstehen, Zeichnungen von Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz 1940-46, Herausgegeben von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1979. Die Zeichnungen waren in einer Ausstellung zu sehen, die Anfang der 1980er Jahre u.a. im Museum Bochum Haus Kemnade, Historisches Museum Frankfurt/Main, Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Kubus Hannover, und der Städtischen Galerie Erlangen, Kunstverein gezeigt wurden.