Erwiderung auf „Einige
kritische Gedanken“ zu ‚Ein sichtbares Zeichen'
„Insofern waren der Verlust der
deutschen Ostgebiete und die Zwangsaussiedlung ihrer noch nicht geflüchteten
Einwohner auch keine kollektive ‚Strafe', sie sind auch nicht als Antwort auf
die Verbrechen der Deutschen zu rechtfertigen. Die Vertreibung war vielmehr die
Voraussetzung für die Rückkehr des Rechts in eine Welt des Unrechts. (…) Sie
war damals und bleibt auch in der heutigen Betrachtung legitim. Sie bildete die
Grundlage für die neue staatliche Ordnung in Europa und damit auch für die
Wiederbegründung des polnischen Nationalstaats.“ („Ein sichtbares Zeichen“, Puw 2/2008)
Diese Sätze haben nicht allein
Wolfgang Stihler zu seinen kritischen Gedanken
angeregt. „Unbestreitbar“ sei der Beschluss, eine ganze Bevölkerung zu
vertreiben, ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Er setzt die Denkschrift der
Evangelischen Kirche von 1965 dagegen, die von einem unauflösbaren Widerspruch
rechtlicher Standpunkte ausging, ein Widerspruch, der nur in einem moralischen
Akt der Versöhnung, des gegenseitigen Verzeihens, aufzulösen sei.
Diese Idee der „Versöhnung“ ist
für viele bis heute eine starke Triebfeder, sich für die Verständigung mit
Polen zu engagieren. So sehr diese Haltung auch zu respektieren ist, so mutig
die Autoren der damaligen Denkschrift sich auch angesichts des damaligen
geistigen Klimas in der Bundesrepublik verhalten haben (Es sei nicht vergessen,
dass die politische Führung der DDR bereits 15 Jahre zuvor mit dem Abschluss
des Görlitzer Vertrages viel mehr Mut aufgebracht hatte.), so ist doch darauf
hinzuweisen, dass spätestens 1990 jedem klar geworden sein muss, dass die
Koalition der Siegermächte, die seit 1945 die Verantwortung für „Deutschland
als Ganzes“ auf ihren Schultern getragen und trotz aller politischen
Widersprüche in großer Gemeinsamkeit praktiziert hatte, in der Frage der
Abtretung der ehemaligen deutschen Ostgebiete an Polen und die UdSSR - und
damit über die Endgültigkeit der Ergebnisse der Potsdamer Konferenz vom Juli
1945 - keine Diskussion zuließ.
War die
zwangsweise Aussiedlung der in diesen Gebieten verbliebenen, noch nicht
geflüchteten deutschen Bevölkerung und die Verhinderung der Rückkehr der
Geflüchteten dorthin völkerrechtswidrig? Ganz sicher nicht: Die Potsdamer
Abschlusserklärung sah die „ordnungsgemäße Umsiedlung verbliebener deutscher
Bevölkerungsteile aus Polen bzw. den polnisch verwalteten Gebieten
Deutschlands, der Tschechoslowakei und Ungarn“ vor. Dass die in der BRD
herrschende Doktrin die Potsdamer Beschlüsse unter Hinweis auf den
Friedenvertragsvorbehalt als „nicht verbindlich“ oder „nicht endgültig“
qualifizierte, kann die Legitimität dieser Beschlüsse nicht erschüttern.
Der Einwand, dass hier nach dem
Grundsatz „Wehe den Besiegten!“ ein atavistisches Siegerrecht proklamiert
werde, ist leicht zu widerlegen. Die Siegermächte konnten sich in ihrer
Entscheidung auf eine gewachsene Tradition der europäischen Politik stützen,
die aus heutiger Sicht sicher einmütig als unmenschlich und schändlich zu
bewerten ist, aus der Sicht der Zeitgenossen jedoch für den Friedensnobelpreis
qualifizierte: Das Vorbild für die auf die territoriale Neuordnung
Mitteleuropas folgende Massenumsiedlung von Deutschen, Polen, Ukrainern,
Litauern, Belorussen etc. war der 1922 von Fridtjof Nansen, dem Hochkommissar des Völkerbundes für
Flüchtlingsfragen, ausgehandelte und im Vertrag von Lausanne zwischen der
türkischen Republik und Griechenland 1923 sanktionierte Bevölkerungsaustausch,
von dem vor allem die Bewohner Thrakiens und der
kleinasiatischen Küste betroffen waren: Mehr als eine Million Griechen und über
500 000 Türken mussten ihre Heimat verlassen; dreitausend Jahre griechischer
Siedlungsgeschichte in Kleinasien wurden so beendet. Der britische
Außenminister Lord Curzon, der selbst einen nach ethnischen
Prinzipien begründeten Grenzverlauf zwischen Polen und der Sowjetunion
vorgeschlagen hatte, die ziemlich exakt der heutigen polnischen Ostgrenze
entspricht, bezeichnete den Lausanner Vertrag „als eine durch und durch
schlechte und böse Lösung, für welche die Welt während der nächsten hundert
Jahre noch eine schwere Buße“ werde entrichten müssen. Nansen
erhielt für sein Engagement den Nobelpreis.
Die Potsdamer Abschlusserklärung
war eindeutig. Sie bekräftigte die Verabredungen, welche die Mächte der Anti-Hitler-Koalition bereits in Teheran und in Jalta
getroffen hatten. Insofern war es auch hinzunehmen, dass polnische Streitkräfte
als Repräsentanten des zukünftigen Souveräns die Beschlüsse der Potsdamer
Konferenz vorwegnehmend bereits im Frühjahr und Sommer 1945 mit der
Zwangsumsiedlung begonnen haben. Diese bleibt auch dann legitim, wenn man
feststellt, dass es in diesem Zusammenhang zu brutalen Übergriffen und
Verbrechen gekommen ist. Mit dem Ende des Krieges kam es überall in den vordem
von Deutschland besetzten und beherrschten Gebieten - in Frankreich und Belgien
genauso wie in Polen oder der Tschechoslowakei - zu Ausbrüchen von
Rachegefühlen und niederen Emotionen, die sich gegen jeden tatsächlich oder
vermeintlich Schuldigen richteten. Verbrechen wie diese müssen als solche
bezeichnet und die Verantwortlichen - soweit möglich - zur Rechenschaft gezogen
werden. Den Betroffenen und ihren Nachfahren steht gerade auf diesem Feld der
Weg des gegenseitigen Verzeihens offen.
Ein wahrhaftiger
Versöhnungsprozess setzt aber voraus, dass die politischen Ursachen genauso wie
die Folgen anerkannt werden. Die ehemaligen deutschen Ostgebiete sind nicht als
Wiedergutmachung für deutsche Verbrechen abzuschreiben, sie sind zusammen mit
dem Staat, der sie an Deutschland gebunden hatte, dem 1871 als
antidemokratisches Bollwerk in Versailles, dem symbolträchtigen Zentrum des
vorrevolutionären, absolutistischen Frankreich gegründeten Deutschen Reich, das
seine eigene Revolution 1918/19 blutig niederschlug und das seinen einzigen
Versuch in Demokratie 1933 abwürgte, untergegangen. Dies anzuerkennen bedeutet
kaum die Aufgabe einer Rechtsposition, wie sie die Denkschrift erwähnt, sondern
ist ein Akt demokratischer Selbstvergewisserung. Es ist so bezeichnend wie
beunruhigend, dass der vom deutschen Volk in freien Wahlen gewählte Souverän
diesen Akt der Selbstvergewisserung bis heute nicht zu vollziehen bereit ist,
dass er stattdessen unverdrossen der Lehre von der Fortexistenz des nämlichen
Reiches, das soviel Unglück über die Deutschen und ihre Nachbarn gebracht hat,
anhängt.
Die vergangenen Jahre haben die Bundesrepublik an der Spitze der Mächte gesehen, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien ethnische Prinzipien über die der Demokratie gestellt und unter Missachtung des Völkerrechts die Zerschlagung souveräner Staaten betrieben haben. Daher bleibt die Aufgabe aktuell, dafür einzutreten, dass Vertreibungen kein Mittel der Politik mehr sein dürfen. In diesem Sinne ist das „Recht auf Heimat“ durchzusetzen. Das schließt ein, jeder Form von völkischem Nationalismus entschieden entgegen zu treten, soziale und kulturelle Integration zu fördern und die Entwicklung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Mechanismen an die Stelle von Volksgruppenpolitik zu setzen. Dies müsste die Intention jenes „sichtbaren Zeichens“ sein, das nach dem Beschluss der Bundsregierung entstehen soll. Bislang deutet nichts darauf hin, dass es auch so kommt.
Friedrich Leidinger