Zwischen
Staatsräson und Vaterlandsliebe
Von Wulf Schade
So lautet der Titel eines 2007
erschienenen Buches über „Die Polnische Fraktion im Reichstag 1871-1918“. Der
Autor, Albert S. Kotowski, wurde 1949 in Bydgoszcz geboren, hat in Torun
studiert, dann 1981 in Posen promoviert und ist seit 2003 apl. Professor für
Osteuropäische Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
Bonn.
„Das Hauptziel der vorliegenden
Arbeit ist die Darstellung der Tätigkeit der Polnischen Fraktion im Deutschen
Reichstag vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der Entwicklung des
deutsch-polnischen Verhältnisses von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten
Weltkrieges“, schreibt der Autor. Er setzt deshalb auch vor die eigentliche
Analyse der Arbeit der polnischen Fraktion im Reichstag, die häufig durch die
Arbeit der polnischen Fraktion im preußischen Landtag ergänzt wird, das Kapitel
„Nationale und politische Verhältnisse im preußischen Teilgebiet Polens“. Hier
führt Kotowski aus, wie sich die relativ tolerante
preußische Polenpolitik nach dem Wiener Kongreß 1815
schrittweise v. a nach der Entstehung des Deutschen Reiches 1870/71 mehr und
mehr zu einer repressiven, antipolnischen Politik wandelte. Auf diesem Feld lag
auch die Hauptarbeit der polnischen Fraktion, d.h. der schrittweisen
Einschränkung der der polnischen Minderheit von Friedrich Wilhelm III.
zugesagten Rechte entgegenzutreten. Es lohnt sich, dessen Worte vom 15. Mai
1815 zu zitieren, da sich die polnische Fraktion bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges
in ihrer parlamentarischen Arbeit immer wieder auf sie berief: „Auch ihr habt
ein Vaterland, und mit ihm einen Beweis meiner Achtung für Eure Anhänglichkeit
an daßelbe erhalten. Ihr werdet meiner Monarchie
einverleibt, ohne Eure Nationalität verleugnen zu dürfen. Ihr werdet an der Konstitution
teilnehmen, welche ich meinen getreuen Untertanen zu gewähren beabsichtige, und
Ihr werdet wie die übrigen Provinzen meines Reiches eine provinzielle
Verfassung erhalten. Eure Religion soll aufrechterhalten und zu einer standesmäßigen Dotierung ihrer Diener gewirkt werden. Eure
persönlichen Rechte und Euer Eigentum kehren wieder unter den Schutz der
Gesetze zurück, zu deren Beratung Ihr künftig zugezogen werden sollet. Eure
Sprache soll neben der deutschen in allen öffentlichen Verhandlungen gebraucht
werden (…)“.
Dieser Zusage stand spätestens ab
den 1870er Jahren eine völlig andere Politik entgegen. Zuerst wurde 1873 der
polnische Sprachunterricht in den Schulen mit Ausnahme im Religionsunterricht
faktisch verboten, 1876 dann die polnische Sprache in Behörden und vor Gericht
durch das Geschäftssprachengesetz. Der Höhepunkt des Sprachverbots wurde dann
1908 erreicht, als der Gebrauch der polnischen Muttersprache bei öffentlichen
Versammlungen - man muss ergänzen: mit Ausnahme bei Wahlveranstaltungen - durch
den „Sprachenparagrafen“ untersagt wurde. Diese Maßnahme betraf auch in hohem
Maße die im heutigen Ruhrgebiet lebenden polnischen Arbeitsmigrantinnen
und -migranten. Gesetzliche Maßnahmen wurden in den
Jahrzehnten nach 1871 zur Förderung deutschen Eigentums in den ehemaligen
polnischen, jetzt preußischen Provinzen getroffen, die gleichzeitig die
Möglichkeit auf Landerwerb durch die Polen stark einschränkten. Kotowski zeigt, dass diese staatlichen Maßnahmen bei den
polnischen Menschen Reaktionen und Gegenstrategien zur Folge hatten, die von
den polnischen Parlamentsfraktionen unterstützt wurden.
Bereits im ersten Kapitel weist Kotowski daraufhin, dass in der Politik der polnischen
Fraktion mit der Zeit ein grundlegender Wandel eintrat. Dieser Wandel ist in
den späteren Kapiteln, die auf einer chronologischen Einteilung basieren, eines
der Hauptthemen und gut nachvollziehbar ausgeführt. Die in den ersten drei
Jahrzehnten nahezu nur aus Adligen bestehende polnische Fraktion betrieb eine
Politik der der Verteidigung polnischer Minderheitenrechte. Dabei ging es immer
um die Existenz der polnischen Minderheit innerhalb des Deutschen Reichs. Die
Fraktion der „Versöhnler“ wollte durch die Teilnahme
an allgemeinen Staatsdebatten immer wieder beweisen, dass man staatstreu sei.
Die Fraktion der „Liberalen“ wollte sich, solange die polnischen
Minderheitenrechte nicht gesichert sind, nur dann an der parlamentarischen
Arbeit beteiligen, soweit es um die Bewahrung dieser Rechte gehe.
Dies änderte sich als gegen Ende
des Jahrhunderts der Anteil von Abgeordneten bürgerlicher Herkunft -
Zeitungsredakteure, Ärzte, Priester usw. - innerhalb der Fraktion zunahm. Diese
waren in der Regel eng mit der nationaldemokratischen Strömung der späteren
polnischen Endecja verbunden. Diese stellten nach der
Jahrhundertwende die Mehrheit in der Fraktion. Nun versuchte man aktiver mit
anderen Fraktionen zusammenzuarbeiten und stimmte einige Male gegen
Regierungsvorlagen, auch wenn diese polnische Fragen nicht berührten.
Kotowski
verbindet die Darstellung der Arbeit der polnischen Parlamentsfraktion immer
wieder mit den Entwicklungen der staatlichen Politik gegenüber der polnischen
Minderheit, und zeigt so, wie sich das Entstehen und Wachsen des
Selbstbewusstseins der polnischen Minderheit im Deutschen Reich und der Wandel
der gesellschaftlichen Zusammensetzung der polnischen Fraktion gegenseitig
bedingen. In den von ihm ausführlich geschilderten „Polendebatten“ zeigte sich,
dass sich die Polen in der Auseinandersetzung um ihre Minderheitenrechte am
ehesten auf die Sozialdemokratie stützen konnten, manchmal auch, v. a. vor der
Jahrhundertwende, auf die Zentrumspartei. Die kaisertreuen Parteien wie die
Nationalliberalen und die Deutsche Reichspartei traten offen gegen die
Forderungen der polnischen Fraktion auf und versuchten mit verschiedenen
Verfahrenstricks, die Debatten um die Rechte der polnischen Minderheit zu
verkürzen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.
Insgesamt ist dieses Buch eine
sehr gelungene Arbeit, die sehr detailliert die Tätigkeit der polnischen
Fraktion schildert und so einen wichtigen Beitrag für das Verstehen
deutsch-polnischer Geschichte liefert, aber auch der deutschen
Demokratiegeschichte insgesamt. Durch das ausführliche Namensverzeichnis wie
auch eine umfassende Bibliographie ist es sehr gut als Nachschlagewerk zu
nutzen.
Albert S. Kotowski, Zwischen
Staatsräson und Vaterlandsliebe, Die polnische Fraktion im Deutschen Reichstag
1871-1918, Düsseldorf 2007, 38,00 €