Geschichte - Recht - Politik

 

Eine Tagung der Freien Universität Berlin erinnert an den Verfassungsjuristen und Politikwissenschaftler

Helmut Ridder und seinen geistigen Nachlass

 

Von Friedrich Leidinger

 

Unter dem Dreiklang Geschichte - Recht - Politik hat die Freie Universität Berlin in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD e.V. im Februar 2009 zu einer zweitägigen Konferenz über Leben und Werk des im April 2007 verstorbenen Giessener Ordinarius für Verfassungsrecht und die Wissenschaft von der Politik, Helmut Ridder, eingeladen. Die drei Begriffe, die als Thema über der Konferenz stehend die Koordinaten des öffentlichen Wirkens Ridders abstecken, sind im Bewusstsein öffentlicher Diskurse eher negativ verbunden, als bezeichneten sie sich wechselseitig ausschließende Gebiete. Zwar schafft die Politik täglich historische Fakten, zwar übt Politik ohne Recht Willkür, zwar gerät das Recht ohne historisches Bewusstsein zur verlogenen Farce, doch diese drei Begriffe in einen positiven Zusammenhang zu setzen, und aus der Spannung, die in ihrem Verhältnis zueinander entsteht, Wahrheit zu destillieren, gelingt in Deutschland nur in Ausnahmefällen. Solche eine Ausnahmeerscheinung war Helmut Ridder.

 

Helmut Ridder wurde in die Weimarer Republik hineingeboren und erlebte als Teenager den Weg der Nationalsozialisten an die Macht. Der Abschaffung der bürgerlichen Ordnung, die Preisgabe von Demokratie und Freiheit, die Herrschaft der Lüge, die Perversion der Moral, die Schändung der Menschenrechte, Raub, Mord, Krieg, Völkermord und Holocaust, alles geschah zu einem höheren Zweck, der den Deutschen in ihrem Reich eine glorreiche Zukunft verhieß.

Nach der Katastrophe dieses Unternehmens, der die Katastrophe der Weimarer Demokratie voranging, einer Demokratie auf Widerruf, die von Anfang an unter dem Geburtsfehler der verratenen Revolution litt, schien ein völliger Bruch mit der Vergangenheit und ein vorbehaltloser demokratischer Aufbau alternativlos. Wie viele andere auch setzte Ridder in dieses demokratische Projekt seine ganze Hoffnung. Allerdings vollzog sich der demokratische Neubeginn nach 1945 im Schatten der verhinderten Demokratie, der die Deutschen seit den gescheiterten Revolutionen von 1848 und 1918 bis zum Zivilisationsbruch der Jahre 1933 bis 1945 begleitete. Im Aufbau und in der Entwicklung der beiden deutschen Nachkriegsrepubliken steckten Kontinuität und Restauration eines Staatsdenkens, das unter dem Banner der „wehrhaften Demokratie“ innere und äußere Dämme gegen die Gefahr des Eindringens jener Ideen errichtete, die den Völkern westlich des Rheins und jenseits des Atlantiks seit Jahrhunderten als Fundament ihrer gesellschaftlichen Ordnung vertraut sind. Aus dieser Erkenntnis wurde Helmut Ridder zum „Anwalt der verhinderten Republik. Das unbeirrbare Plädoyer für ihre Verwirklichung und die beißende Anklage ihrer Vereitelung war der Kern seines Lebenswerkes“ (Chr. Koch, POLEN und wir 3/2007).

Die Themen der Berliner Tagung sind aktuell, teilweise sind sie Gegenstand tagespolitischer Meldungen, und doch reichen sie in die Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zurück: Der erste Themenkomplex betrifft die bürgerlichen Freiheiten und die Grundlagen der Demokratie. Heute sprengt eine Große Koalition in Berlin aus dem erschöpflichen Vorrat an Grundrechten unserer Verfassung Blöcke, mit denen der antiliberale „Sicherheitsstaat“ der Zukunft gemauert werden soll. Damals war es der Widerstand gegen die Notstandsgesetze, wie sie keine vergleichbare westliche Demokratie kennt, den Helmut Ridder als einer der herausragenden intellektuellen Köpfe der westdeutschen Bürgerrechts- und Demokratiebewegung in der ersten Reihe der außerparlamentarischen Opposition anführte. Heute muss der „Internationale Terrorismus“ als Begründung für Demokratieabbau herhalten, weshalb Überwachung und Bespitzelung mit ungeahnten technischen Möglichkeiten angeordnet werden, weshalb Menschen mit falscher Hautfarbe und fremdartigem Namen gekidnappt werden und in der Hand ihrer Folterer bleiben, weshalb Polizei und Geheimdienste mit Verbrecherregimes zusammenarbeiten und unter der Folter erpresste Aussagen als Erkenntnisquelle nutzen. Vor fünfzig Jahren war es die „Bedrohung durch den Kommunismus“, die der Demokratie entgegen stand, weshalb Briefträgern und Lehrern mit unerwünschten Gedanken die Ausübung ihres Berufs zu versagen, Parteien zu verbieten und Jugendorganisationen, Gewerkschaften oder Vereine zu bespitzeln waren (auch die Deutsch-Polnische Gesellschaft fand sich bis Ende der 1970er Jahre - auch nach dem Abschluss des „Warschauer Vertrags“! -  regelmäßig in den Verfassungsschutzberichten als „Tarnorganisation für verfassungsfeindliche Bestrebungen“ erwähnt, da sie ja für die Anerkennung der „Oder-Neiße-Linie“ als deutsch-polnische Grenze eintrat). „Mehr Demokratie wagen“, das Motto der ersten Regierungserklärung eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers von 1969 blieb in der Folge - von wichtigen Liberalisierungen des Straf- und Familienrechts abgesehen - ein höchst unvollkommen eingelöstes Versprechen.

Die Tagung wird der Frage nachgehen, wie es kommt, dass die Verwirklichung von Demokratie als Staatsauftrag in Deutschland immer noch vorherrschend als eine polizeiliche Aufgabe angesehen wird, warum der Staat selbst als ein metaphysischer Monarch erscheint, als ein dem demokratischen Zugriff letztlich entrückter Herrschaftsapparat. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vollzog sich quasi unter der Decke dieses Apparates, in dem die einen einer Verfassung beitraten, die sie nicht kennen konnten, und die anderen in einem Staat fortlebten, der nach derselben Verfassung längst erloschen war. Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung in einer gesamtdeutschen Parlamentarischen Versammlung und ihre Annahme durch eine Volksabstimmung - wie sie Artikel 146 des Grundgesetzes vorgesehen hatte - wurde verhindert. So gebricht es dem vereinigten Deutschland an jener demokratischen Legitimation, die in unseren westlichen Nachbarländern so selbstverständlich wie unentbehrlich angesehen wird, damit der Souverain sich aus der Hörigkeit des Staates befreie, damit der „Staatsbürger“ ein Citoyen werde.

Aus welcher Position die verhinderte Republik ihr Verhältnis zu Polen bestimmt, wird ein weiteres Thema sein. Nicht zufällig fallen die polnischen Teilungen und die Verhinderung einer Ausbreitung der französischen Revolution östlich des Rheins in die gleiche Zeit, nicht zufällig ist die Wiedergeburt der polnischen Rzeczpospolita vor 90 Jahren begleitet von dem Versuch einer ersten deutschen Republik, die auch an der Herstellung eines konstruktiven Verhältnisses zu ihrem östlichen Nachbarn scheiterte. Nicht zufällig war die Liquidation Polens und des polnischen Volkes eines der Hauptziele des nationalsozialistisch regierten Reiches, und genauso gehören die in und an Polen begangenen Verbrechen bis heute zu den am meisten tabuisierten und verleugneten deutschen Verbrechen.