Wenn wir
gewonnen hätten...
Von Tomasz £ubieński
Wenn der Aufstand (der Warschauer Aufstand 1944 - d. Red.) mit einem
Sieg geendet hätte und in der Hauptstadt die Macht sich in den Händen der
Führung der Republik Polen befunden hätte, hätte das die damalige Geopolitik
verändert? Wäre die Teilung Europas in Einflußzonen
besiegelt gewesen? Hätte die Geschichte Polens einen anderen Verlauf nehmen
können?
Ich mag keine „alternative Geschichtsschreibung“. Sie kann gefährlich
sein, weil sie nicht nur historischen
Überlegungen dienen kann. Und außerdem steckt in ihr eine gewisse Arroganz
gegenüber Leuten, die mit der wahren Geschichte zu tun hatten. Als
Geschichtspublizist fürchte ich mich vor einer solchen Vorgehensweise und
wundere mich, dass professionelle Historiker immer öfter Gefallen daran finden.
Um so zweifelhafter, zweideutiger irgendeine
Geschichte ist, umso mehr wird sie als alternativ angesehen.
Was den Warschauer Aufstand
angeht, so sind in den letzten Jahren eine Menge „alternativer Szenarien“
aufgetaucht, die - manchmal könnte man diesen Eindruck haben - indirekt nicht
nur die Entscheidung über seinen Beginn, sondern auch die Art und Weise, wie
der Aufstand geführt worden war - rechtfertigen.
Hätte man es vielleicht doch mit
Hitler versuchen sollen?
Einige Historiker behaupten also,
dass, wenn der Aufstand nicht gewesen wäre, Polen zu einer weiteren, zum
Beispiel der sechzehnten, Sowjetrepublik geworden wäre. Und schließlich standen
ja Rumänien und Ungarn, Länder, die sich nach 1945 in einer ähnlichen
Satellitenkonstellation wie Polen befanden - fast bis zum Ende des Krieges an
der Seite des III. Reiches. Das wurde übrigens von den Kommunisten
(insbesondere in Ungarn) als Argument benutzt, um dort nach dem Krieg einen im
Verhältnis zu Polen viel größeren Terror auszubreiten.
Eine andere Hypothese besagt,
dass nach 1943 - nachdem Katyń bekannt wurde und
Stalin die Beziehungen zur Regierung der Republik Polen abgebrochen hatte
(April 1943) und nach Teheran (November 1943), als die „Großen Drei“ - Stalin,
Roosevelt und Churchill, vorab das Nachkriegseuropa aufgeteilt hatten - die polnische
Regierung eine politische Verständigung mit Deutschland hätte suchen können.
Ganz abgesehen von dem abstoßenden moralischen Aspekt eines Bündnisses mit
Hitler belegt die Entwicklung der Ereignisse, dass sich Polen dann im Lager der
absoluten Verlierer befunden hätte - weil mit Schande bedeckt und der Möglichkeit
beraubt, sein historisches Gedächtnis als eine Quelle zu pflegen, die der
Bevölkerung nach 1945 als Stütze diente (und wenn es nur eine psychologische
Stütze gewesen wäre).
Es werden auch hier und da
Hypothesen entwickelt, dass, wenn es den Aufstand nicht gegeben hätte, die Rote
Armee Berlin schneller eingenommen hätte, ja, sogar bis zum Atlantik gekommen
wäre, weil ja im August 1944 die Alliierten gerade erst die Normandie verlassen
hatten.
Das Problem daran ist, dass sich
der Antikommunismus dieser Hypothese - paradoxerweise - mit der These der
Sowjetpropaganda deckt, dass der Aufstand der Offensive der Roten Armee
geschadet, also den Krieg verlängert habe, dass er also (selbst eine solche
These wurde aufgestellt) den Deutschen gelegen kam.
Was wäre, wenn der Aufstand mit
einem militärischen und politischen Sieg geendet hätte?
Wenn die ganze Hauptstadt,
vielleicht sogar zusammen mit dem Flugplatz, in die Hände der AK (Heimatarmee)
und der offen gelegten Führung des Untergrund-Staates gelangt wäre, die ja die
rechtmäßigen Vertreter der Regierung der Republik Polen waren?
Und wenn die Aufständischen
gewonnen hätten?
Und wenn in Warschau nicht nur
die Fallschirm-Brigade des Generals Stanisław Sosabowski
- die Elite der polnischen Armee - gelandet wäre, die ja schließlich für die
Landung in Polen trainiert worden war - sondern vielleicht sogar die Londoner
Regierung?
Einmal allein rein alternativ
betrachtet, hätte Hitler ja schließlich - statt den Befehl zu geben, Warschau
dem Boden gleichzumachen, sich zu einer politischen Lösung entschließen können.
Er hätte die Antihitlerkoalition durcheinander
bringen können, wenn er seinen Truppen befohlen hätte, das aufständische
Warschau in Ruhe zu lassen.
Und wenn nicht er, dann die neue
deutsche Führung, die, nach einem gelungenen Attentat auf Hitler nach dem 20.
Juli 1944 die Verständigung mit dem Westen und mit den Polen gesucht hätte.
Stellen wir uns also vor, wir
gewinnen. Warschau wäre frei.
Was dann?
Hätte Churchill für Warschau gekämpft?
Shakespeare schrieb, es sei
tödlich, sich zwischen den Klingen zweier mächtiger Fechter zu befinden. Selbst
ein siegreicher Aufstand hätte in nichts die geopolitische Situation Polens
geändert, das sich 1944 nicht zwischen den Klingen zweier (Deutschland und
UdSSR), sondern dreier mächtiger Fechter (die Westalliierten eingerechnet)
befunden hat. Keiner von denen war, wenngleich auch in unterschiedlichem Maße
und Stil, an einem Erfolg „der polnischen Angelegenheit“ interessiert.
Die „polnische Angelegenheit“ -
die der polnischen Unabhängigkeit - war schon 1943 verloren, wenn nicht sogar
schon noch früher. Das Bündnis zwischen dem Westen und den Sowjets funktionierte
zwar nach dem Prinzip des eingeschränkten Vertrauens, aber es funktionierte,
deshalb hatte es gesiegt. Für die Westalliierten wäre ein Erfolg des Aufstandes
vor allem ein politisches Problem gewesen.
Ich glaube, wenn die Deutschen
sich zurückgezogen hätten und das aufständische Warschau in Ruhe gelassen
hätten, wäre das für die Sowjets eine militärische und politische „Nuss zu
knacken“ gewesen. Und Churchill und Roosevelt hätten dann den Aufständischen
nicht geholfen, sie hätten nicht „für Warschau sterben“ wollen, sie hätten den
Bruch des Bündnisses mit der UdSSR nicht riskiert. Wenn ich mir schon etwas
apokalyptisch vorstellen könnte (aber ich will es nicht, ich wehre mich
dagegen), dann eher einen angloamerikanischen Luftangriff - einen vielleicht symbolischen,
vielleicht auch einen teppichartigen Luftangriff - auf das aufständische
Warschau, als Geste der Unterstützung für Stalin, der Hitler den entscheidenden
Stoß versetzt.
Das Schicksal Polens, das Schicksal Griechenlands
Ein indirekter Beweis, dass die
in Teheran gefassten Beschlüsse damals respektiert worden waren, ist das
Schicksal Griechenlands, wo die Situation umgekehrt als in Polen war. Während
der Aufteilung Europas in eine „sowjetische“ und eine „westliche“ Zone, fiel
Griechenland an die Alliierten. Stalin respektierte diese Festlegung (aus
welchen Gründen auch immer), obwohl in Griechenland die prorussischen
Sympathien eine alte Tradition waren und die kommunistische Partisanenbewegung
sehr stark war.
Stalin machte jedoch keinen
Finger krumm, als sich die auf der Jagd nach den Deutschen in Griechenland
einmarschierenden britischen Truppen mit den griechischen
Partisanen-Kommunisten Gefechte lieferten. Das Ziel der Briten war einfach: Sie
wollten die Festlegungen von Teheran durchsetzen, und dabei zögerten sie nicht,
Gewalt anzuwenden: Es kam in Athen zu regulären Kämpfen zwischen Griechen und
Briten. Letztere setzen sogar die Luftwaffe ein, zwar nur leicht, aber eine der
Vorstädte Athens wurde dabei bombardiert.
Die Geschichte Polens und Griechenlands
sind zwei Seiten derselben Medaille: der Geopolitik jener Jahre, deren Regeln
damals noch von beiden Seiten eingehalten wurden, absolut und
rücksichtslos.
Die Geschichte Griechenlands -
auch die frühere, aus der Zeit der antitürkischen Aufstände, die gewaltige
Opfer nach sich gezogen hatten - zeigt, dass die Geschichte Polens, das
verraten und verkauft worden war, in Europa keine Ausnahme ist. Es war Eleftherios Venizelos, ein Teilnehmer der Aufstände für die
griechische Unabhängigkeit seiner Heimatinsel Kreta und achtmaliger
Ministerpräsident Griechenlands (er starb 1936), der gesagt hatte, dass
Griechenland für die Großmächte ein Bettler sei.
Der toxische Komplex, verraten
und verkauft zu sein, ist nicht nur für die Griechen und die Polen charakteristisch,
sondern für viele Länder und Völker kleiner und mittlerer Größe, die an der
Nahtstelle zwischen dem Osten und dem Westen leben. Ihn haben die Serben
(gegenüber den Franzosen), die Tschechen (nach München 1938) oder auch die
Ungarn (der Vertrag von Trianon 1920)..
1944 und 1863
Eine andere geschichtliche Analogie ist der Januaraufstand.
In einem in der Zeitung „Tygodnik Powszechny“ zum 100.
Jahrestag des Januaraufstandes [von 1863 - d. Red.] veröffentlichten Essay
stellte Stanis³aw Stomma die These auf, dass selbst
wenn die Aufständischen gegen die russische Armee gewonnen hätten, hätten sie
dem politischen System Europas die Stirn bieten müssen - zuerst in Gestalt der
preußischen Armee, die sich ab Januar 1863 an der Grenze der besetzten polnischen
Gebiete konzentriert hatte (Bismarck bot dem Zaren seine Unterstützung an).
Auch 1944 hätte die Heimatarmee AK, um die Unabhängigkeit zu erkämpfen, nicht
nur mit zwei faktischen Gegnern (mit den Deutschen und dem zweideutigen,
gefährlichen sowjetischen Verbündeten) fertig werden müssen (aber wie?!),
sondern die „Weltordnung“ herausfordern müssen, die bis 1989 überdauerte.
Man kann eine Analogie zwischen
dem Jahr 1863 und dem Jahr 1944 ziehen: In dem einen wie in dem anderen
historischen Moment entstand so eine paradoxe Situation, dass irgendein
Teilsieg eine noch größere Niederlage nach sich ziehen musste. 1863 hatten die
Erfolge der Aufständischen - z.B. die Beherrschung irgendeiner Kreisstadt - die
Konzentration noch größerer russischer Kräfte, ihre massierten Angriffe,
Niederlagen und Repressalien zur Folge. Anders gesagt: Je größer der Erfolg der
Januaraufständischen war, umso größer war danach ihre Niederlage.
Im Jahre 1944 hätte ein Sieg der
Warschauer Aufständischen die Vektoren der Geopolitik nicht abgewendet. Er
hätte (das ist noch ein „alternatives Szenarium“) eine noch größere Niederlage
und noch mehr Opfer zur Folge haben können. Wäre eine voranstürmende Rote Armee
bereit gewesen, sich mit dem aufständischen Warschau zu einigen, wo sie doch
schon vorher - nach der kurzzeitigen „Waffenbrüderschaft“ - mit den Abteilungen
der AK in Vilnius, Lwów oder Lublin
kurzen Prozess gemacht hatte?
Und politisch? Da die „Großen
Drei“ mit der Sache von Katyń fertig geworden
waren, indem sie sie unter den Teppich kehrten, hätten sie sich auch mit
Warschau zu helfen gewusst. Das hätte die Einstellung des Westens zur
„polnischen Angelegenheit“ und umgekehrt, die Polens zum Westen, mindestens für
ein weiteres halbes Jahrhundert in Frage stellen können.
Ein polnisch-polnischer Krieg?
Die polnisch-sowjetische Schlacht
um Warschau hatte noch einen Kontext: hier standen sich auf der einen Seite
Soldaten der AK (vielleicht unterstützt von der Brigade Sosabowskis,
wenn es ihr gelungen wäre, nach Warschau durchzukommen), auf der anderen Seite
die Soldaten der Berling-Armee gegenüber, die aus Leuten bestand, die man aus
den Gulags geholt hatte, und hauptsächlich aus
Bauernfamilien stammenden Rekruten, die von politisch disziplinierten
sowjetischen Offizieren befohlen wurde.
Das bedeutete, dass ein
eventueller polnisch-sowjetischer Krieg auch zu einem polnisch-polnischen Krieg
geworden wäre - blutiger und komplizierter als die Zeit nach 1945. Ein solcher
Bürgerkrieg hätte auch dauernde politische und menschliche Konsequenzen gehabt
- er hätte im Land Gräben aufgerissen, die über ganze Generationen hinweg
angehalten hätten.
Entgegen den politischen und
militärischen Absichten der Befehlshaber des Untergrund-Staates, hatte der
Aufstand - der echte, nicht der „alternative“ - die Errichtung des Kommunismus
in Polen erleichtert: Die Hauptstadt der polnischen Unabhängigkeit mit ihrem
intellektuellen Potential und ihrem Potential an Menschen war zerstört.
Warschau wurde wieder aufgebaut, aber das war schon
eine andere Stadt und zum Teil andere Menschen.
Steine auf den Barrikaden?
Im Augenblick der Niederlage ist
es schwerer, einen moralischen Sieg zu erkennen - über einen solchen spricht
man erst später. Die Niederlage ist immer mit einer Erniedrigung verbunden, mit
Zerfall (des Staates, der Kultur, der Wertehierarchie), schließlich mit den
menschlichen Zusammenbrüchen unter den Verlierern. Wer den Kampf aufnimmt, muss
stets auch jemandes Chancen abwägen. In der Entscheidung über den Beginn des
Aufstandes fehlte eine solche Kalkulation. Doch selbst wenn sie angestellt
worden wäre, gab es keinen guten Ausgang. Es gab keine gute Wahl.
Vielleicht hätte man etwas vom
Schicksal erhandeln, an eine Minimierung der Verluste denken müssen.
Stattdessen wurden zigtausend Soldaten und einige hunderttausend Einwohner wie
„Steine auf die Barrikade“ geworfen. Diese Metapher von S³owacki, die in dem
einstigen Kultbuch von Aleksander Kamiński über die Grauen Reihen
verwendet wurde, gefällt heute wohl allen. Obgleich sie zweideutig ist: aus der
Sicht des Menschen, der ein solcher „Stein“ ist, muss die Sache nicht so sicher
sein. Anders fühlt sich so ein Stein, wenn er ein Soldat ist, und anders ein Stein
- wenn er ein wehrloser Zivilist ist.
Auf Kreta gibt es das orthodoxe
Kloster Arkadi. Während eines der griechischen Aufstände gegen die Türken
suchten die Aufständischen und die örtliche Bevölkerung dort Schutz:
dreihundert Kämpfer und sechshundert Frauen, Kinder und alte Menschen. Als die
türkische Armee das Kloster eingekesselt hatte, antworteten die aufständischen
Anführer (Militärs und Geistliche) auf den Vorschlag sich zu ergeben, indem sie
sich in die Luft sprengten. Und sie begruben unter den Trümmern alle, auch
viele angreifende Türken. Sie hatten also nicht nur eine für sich strittige
Entscheidung getroffen.
Und wenn man gekämpft hätte - aber anders?
Als der Beschluss über den Kampf
schon gefällt war und nach einigen Tagen, spätestens aber nach einigen Wochen
klar wurde, dass niemand helfen werde, hätte man wohl kapitulieren müssen. Der
Kampf und das Massaker dauerten jedoch ganze 63 Tage.
Die Warschauer Aufständischen
waren in einer anderen Situation als die Aufständischen von Paris (August 1944)
und Prag (Mai 1945). Die Erhebungen in Paris und Prag hatten stark den
Charakter eines symbolischen Kampfes: Sie waren ohne militärische, aber von
politischer Bedeutung - hauptsächlich für das Selbstbewusstsein beider Völker
(und im Falle der Franzosen auch für ihre Stellung gegenüber den Alliierten).
Die Tatsache jedoch, dass Paris
und Prag nicht in Flammen aufgegangen waren, verdanken beide Städte nicht der
Determiniertheit und dem Mut ihrer Aufständischen, sondern äußeren Faktoren.
Auch dem Glück. Zur Entsetzung von Paris rückte die französische Panzerdivision
von General Leclerc vor, und später die Amerikaner. Diese für Paris erlösende
Entscheidung komplizierte jedoch die alliierte Offensive und die Westfront kam
kurz darauf für einige Monate zum Stehen. Sonst wäre vielleicht der Krieg
früher zu Ende gewesen. Die Prager Aufständischen wiederum wurden von den
Russen unter General Wlassow unterstützt - der Frontwechsel
hat ihnen nicht viel geholfen, die Alliierten haben sie sowieso später Stalin
ausgeliefert. Und dann war der Krieg schon vorbei.
Der symbolische, begrenzte Kampf
- war er in Warschau möglich? Und hätte das etwas geändert? Denn wie
„alternativ“ sich die Geschicke Warschaus im Jahre 1944 auch entwickelt hätten, die geopolitischen
Mühlen hätten Warschau, Polen und Mitteleuropa zermahlen. Daran sollten wir -
leider - keinen Zweifel haben.
Aber sie haben ja schließlich
nicht alles bis zum Schluss zermahlen.
Der Autor, Tomasz
Łubieński, geb. 1938, ist Schriftsteller und
Publizist sowie Chefredakteur der Monatszeitschrift „Nowe
Książki“.
(Tomasz
£ubieński, Gdybyœmy wygrali,
Tygodnik Powszechny Nr. 31 v. 3.8.2008. Wir danken für die Abdruckerlaubnis in
eigener Übersetzung. Übersetzung: Dagmar Kriebel,
Straußberg)