Der letzte
Krieg des alten Generals
Der ehemalige General Wojciech
Jaruzelski steht wegen der Verhängung des Kriegsrechts im Jahr
1980 vor Gericht.
Von Thomas Dudek
2004 musste sich Wojciech Jaruzelski vor der Justiz für die blutige Niederschlagung der Danziger
Unruhen von 1970 verantworten. Seit dem 12. September dieses Jahres steht der
ehemalige General wegen seiner wichtigsten
politischen Entscheidung vor Gericht, der Verhängung des Kriegsrechts.
Dies dürfte der letzte Krieg des alten Generals sein, dem es um seine Ehre,
seinen Anklägern um Gerechtigkeit geht. Bis zu 10 Jahre Haft drohen dem
ehemaligen Staatspräsidenten. Doch ob der Wunsch nach Gerechtigkeit tatsächlich
ausschlaggebend für diesen Prozess ist, ist fraglich. In Polen selber ist der Prozess
höchst umstritten. Zudem hat die Geschichte schon längst ihr Urteil über den
alten General gesprochen.
Er hat immer noch die gleiche
Brille, die in den 80er Jahren zu seinem Markenzeichen wurde. Und selbst die
Frisur hat er in den letzten 20 nicht verändert - die schütteren Haare sind
immer noch nach hinten gekämmt, lediglich grauer ist das Haupthaar geworden. Es
reicht ein Blick um zu wissen, dass es sich bei dem Mann in der
Nachrichtensendung auf TVN24 um den General handelt, der am 13. Dezember 1981
für mich, damals einem 6-jährigen Knirps, zum Sinnbild des Bösen wurde.
Wie an jedem letzten Tag der Woche
stand ich auch an diesem Sonntag früh auf, um nach dem Frühstück und vor dem
lästigen Gang in den Kindergottesdienst noch etwas kindliches Vergnügen zu
erhaschen. Doch an diesem verschneiten Wintersonntag war alles anders. Anstatt
meiner geliebten Kinderserien, die das Staatsfernsehen als Konkurrenzprogramm
zur katholischen Kirche ausstrahlte, erschien ein Uniformierter auf dem
schwarzweißen Bildschirm1. Mit ernster Stimme und der Flagge des polnischen
Militärs im Hintergrund, wandte sich der Mann, den ich bis dahin nur
gelegentlich in den Nachrichten wahrgenommen habe, an das polnische Volk. Was
er sagte, verstand ich damals nicht, dass es aber von großer Bedeutung war,
wurde mir an den Reaktionen meiner Mutter und meiner älteren Schwester bewusst.
„Wir haben Krieg“, stammelten beide weinend.
Seit diesem Tag hat sich der Name
des Uniformierten tief in mein Gedächtnis eingebrannt: Wojciech Jaruzelski2.
Auch deshalb, weil ich in den nächsten Tagen begann, die Worte meiner Mutter
und meiner Schwester zu verstehen. Fast täglich rollten Panzerkolonnen durch
die Hauptstraße meiner Heimatstadt, an jeder wichtigen Straßenkreuzung stand
ein Panzerwagen mit Soldaten davor, die willkürlich Autos aus dem Verkehr
herauswinkten, um Personenkontrollen durchzuführen. Es war halt alles wie im
Krieg, nur dass dieser Krieg nicht gegen einen äußeren Feind, sondern gegen das
eigene aufmüpfige Volk geführt wurde, das genug hatte von über 30 Jahren
Kommunismus und sich deshalb seit August 1980 massenhaft in der Solidarność,
der ersten freien Gewerkschaft östlich des Eisernen Vorhangs, organisierte.
Und mit welchen anderen Mitteln
die „bösen Kommunisten“, wie mir damals Verwandte und andere Erwachsene
erklärten, ihren Krieg noch führten, lernte ich ebenfalls kennen. Eines Tages,
gerade von der Schule kommend, erschrak ich, als die ZOMO, eine damals berühmt
berüchtigte paramilitärische Einheit der Miliz, die Wohnung unseres Nachbarn
stürmte. Und mein Bruder, den Behörden schon wegen unserer deutschen Mutter
suspekt, wurde aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Solidarność, die
lediglich aus seiner Unterschrift im Mitgliedsausweis der Gewerkschaft bestand,
von der Uni exmatrikuliert. Erst ein Jahr später, nach einem Jahr Buße in einem
Elektrizitätswerk, durfte er wieder sein Ingenieursstudium an einer
Abenduniversität fortsetzen.
Bis zum 22. Juli 1983 dauerte
dieser Krieg an. Doch das Kriegsrecht, wie wir heute wissen, bedeutete für die
Polnische Vereinigte Arbeiterpartei zwar eine gewonnene Schlacht, jedoch nicht
einen gewonnenen Krieg. 1989, auch durch die Perestroika in der Sowjetunion
ermöglicht, besiegelten die Kommunisten am Runden Tisch ihr eigenes Ende. Ich
persönlich bekam es nur noch aus der Ferne mit. 1985 reiste meine Mutter mit
mir nach Deutschland aus.
Doch die Erlebnisse und
Erfahrungen aus den Tagen des Kriegsrechts ließen und lassen mich bis heute
nicht los. Als ich 1990, zum ersten Mal seit unserer Ausreise wieder in Polen
weilte, war mein erstes Buch, was ich damals erstand „Die Nacht des Generals“
von Gabriel Meretik3. Darin rekonstruiert der im Jahr 2000 verstorbene
französische Journalist die Ereignisse in der Nacht vom 12. auf den 13.
Dezember 1981. Es folgten weitere Bücher und Dokumentensammlungen über das
Kriegsrecht und die Solidarność, die alle geordnet in meinem
Bücherregal stehen. Und weitere Bände dürften hinzukommen, da die polnischen
Verlage regelmäßig neue Werke zu diesem Thema herausbringen.
Es ist kein Trauma, das mich dazu
bringt, sich immer wieder mit dem Kriegsrecht zu beschäftigen. Wozu auch, ich
wurde weder inhaftiert noch habe ich selber einen Verwandten oder Bekannten,
der in ein Internierungslager kam. Und das Schicksal, wie es mein Bruder
erlitt, erlitten 1981 auch Tausende andere seiner Altersgenossen, die sich im
jugendlichen Idealismus in die Solidarność
einschrieben, ohne sich weiter in ihr zu engagieren. Ja, selbst die meisten
Polen haben in den Jahren des Kriegsrechts kein Trauma davon getragen. Seine
damals bekanntesten Gegner, allen voran Lech Wałęsa, Adam Michnik,
Tadeusz Mazowiecki oder die bereits verstorbenen Bronisław Geremek und Jacek Kuroń, die
in den 80er Jahren alle mehrmals interniert wurden, haben schon zu Beginn der
90er Jahre ihren Frieden mit dem General geschlossen. Adam Michnik, der Gründer
der Gazeta Wyborcza,
knüpfte sogar freundschaftliche Bande zu Wojciech Jaruzelski.
Jaruzelski ist eine der faszinierendsten historischen Persönlichkeiten
Polens
Nein, es sind andere Gründe, die
mich und die Polen immer wieder bewegen, sich mit dem Kriegsrecht zu befassen.
Einerseits möchte man endlich erfahren, ob das Kriegsrecht tatsächlich das
„kleinere Übel“ war und mit dessen Einführung eine Invasion der sowjetischen
Armee verhindert wurde. Diese Gefahr war den Solidarność-Aktivisten
jedenfalls von Beginn ihrer Tätigkeit an bewusst. Memoiren von Oppositionellen
und Dokumente der Solidarność belegen dies. Seit Beginn der Solidarność
wurde in der Oppositionsbewegung über eine mögliche Reaktion der Sowjetunion
debattiert, die für die Solidarność damals nur aus zwei Möglichkeiten
bestand, einer „Finnlandisierung“ oder einer „Tschechoslowakisierung“ des Landes.
Andererseits ist es aber auch die Person Wojciech Jaruzelski selber, die Polen
sich immer wieder mit dem Thema beschäftigen lässt. Neben Józef
Piłsudski und Papst Johannes Paul II. ist Wojciech Jaruzelski die
wahrscheinlich ambivalenteste und dadurch faszinierendste historische
Persönlichkeit, die das Land östlich der Oder in den letzten 100 Jahren
hervorgebracht hat.
Geboren 1923 als Spross einer kleinadligen Familie, deren
Wurzeln bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen, genoss er eine typisch privilegierte
Erziehung im Vorkriegspolen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen floh die
Familie nach Litauen, von wo sie von der einrückenden Sowjetarmee weiter nach
Sibirien deportiert wurde. Dort mussten die Jaruzelskis, ebenso wie Tausende
anderer deportierter Polen, Zwangsarbeit leisten. Um dieser zu entkommen,
schloss sich Wojciech Jaruzelski der in der Sowjetunion neu entstandenen
polnischen Armee an, die von Moskau als Gegenstück zur polnischen
Exil-Regierung in London gedacht war, mit der er im Zweiten Weltkrieg gegen die
Deutschen kämpfte.
Nach dem Krieg begann Jaruzelski
eine steile Militärkarriere. 1956 wurde er General, 1968 Verteidigungsminister.
Es ist eine militärische Laufbahn, die sein Leben bestimmte. Erst am 31. Januar
1991 schied er aus der Armee aus. Verbunden war diese Karriere aber auch mit
der kommunistischen Partei, der er seit 1947 angehörte. Mit jedem Sprung auf
der militärischen Karriereleiter ergatterte er auch immer wichtigere Positionen
innerhalb der Partei. 1971 wurde er Mitglied des Politbüros, am 18. Oktober
1981 Generalsekretär - acht Monate, nachdem er zum Ministerpräsidenten
avancierte.
Hat die Verhängung des Kriegsrechts wirklich einen drohenden Einmarsch
der Sowjetarmee verhindert?
Und diese politische Karriere
zwang ihn auch zu seiner schwierigsten Entscheidung, der Ausrufung des
Kriegsrechts. Eine Entscheidung, die selbst in den letzten 20 Jahren sein Leben
bestimmte und es noch bis heute tut. Sechs Bücher, von denen auch zwei auf deutsch erschienen sind, hat Jaruzelski seit der Wende
geschrieben. Und in jedem seiner Werke verteidigt er seine Entscheidung. Das
Kriegsrecht habe einen bevorstehenden Einmarsch der Sowjetarmee verhindert und
gleichzeitig die von Streiks geschwächte Wirtschaft des sozialistischen Staates
vor dem endgültigen Kollaps bewahrt.
Von Jahr zu Jahr haben die Polen
Jaruzelski diese Begründung mehr abgenommen. 1996 amnestierte ihn sogar der
Sejm, als er wegen des Kriegsrechts vor Gericht gestellt werden sollte. Auch
deshalb, weil einige Dokumente der SED, die beispielsweise von den beiden
Berliner Historikern Michael Kubina und Manfred Wilke 1995
veröffentlicht4 wurden, auf eine mögliche Invasion der Warschauer
Pakt-Truppen hinweisen.
Doch seine Argumentation hat seit
Ende der 90er Jahre Kratzer bekommen. Ausgerechnet auf einer 1998 in Polen
stattgefundenen Konferenz bezichtigte der ehemalige Sowjetmarschall Viktor
Kulikow Jaruzelski der Lüge. Jaruzelski selber soll den Kreml um eine Invasion
des sozialistischen Bruderstaates gebeten haben, sagte Kulikow und stützte
damit die Behauptung von Anatolij Gribkow, die der
ehemalige Generalstabchef der Vereinten Streitkräfte der Warschauer
Pakt-Staaten in seinem Buch5 über
das Militärbündnis aufstellte. Im selben
Jahr lieferte der amerikanische Historiker Marc Kramer Beweise für die
Behauptungen Kulikows und Gribkows. Im Bulletin
des Cold War International Project6
veröffentlichte der Historiker des Woodrow Wilson
International Center in Washington bis dahin unbekannte Aufzeichnungen des
Generalleutnants Viktor Anoschkin, der 1981 Adjutant
Kulikows war. Laut dieser Notizen bat Jaruzelski noch zwei Tage vor seinem Coup
um militärische Unterstützung der Sowjetunion. Doch aufgrund des Krieges in
Afghanistan, der deswegen angespannten Beziehungen zum Westen, enormer Probleme
in der eigenen Armee und aus Furcht vor möglichen Kampfhandlungen in Polen,
wies der Kreml diese Anfrage zurück. „Wir werden keine Truppen senden, selbst
wenn die Solidarność Polen übernimmt“, soll KGB-Chef Jurij Andropow während einer Sitzung des Politbüros am 10.
Dezember 1981 gesagt haben.
Jaruzelski brach in Tränen aus,
als Kulikow diese Geschichte 1998 erzählte. „Wie kannst du nur“, soll er damals
den ehemaligen Sowjetmarschall auf Russisch angeraunt haben und blieb in den
darauf folgenden Jahren bei seiner Argumentation. Nur, dass er diesen seinen
letzten Krieg, in dem es allein nur um seine Ehre als Offizier und Patriot
geht, nicht mehr nur an der innerpolnischen Front, sondern zusätzlich auf dem
internationalen Feld der Geschichtsforschung führen musste.
Anklage wegen der „Bildung einer kriminellen und bewaffneten
Vereinigung“
Seit einigen Wochen muss der
General a.D. nun einen Dreifrontenkrieg bestehen. Im
Frühjahr dieses Jahres erhob das
Institut für Nationales Gedenken7, eine von der Politik geschaffene
Melange aus Forschungsstätte und Staatsanwaltschaft, Klage gegen das ehemalige
Staatsoberhaupt und sechs weitere Repräsentanten des damaligen Regimes.
Skurrilerweise wegen „Bildung einer kriminellen und bewaffneten Vereinigung“
müssen sich die sieben nun greisen Männer seit dem 12. September (2008 - d.
Red.) vor Gericht verantworten und nicht offiziell wegen des Kriegsrechts.
Allein dieser Anklagepunkt lässt
viele Polen an dem Sinn dieses Prozesses zweifeln. In den letzten Jahren fanden
zwar einige Strafverfahren gegen ehemalige kommunistische Milizionäre und
Verantwortliche statt, wie zum Beispiel im Fall des Kattowitzer Bergwerks Wujek, bei dessen Erstürmung am 16. Dezember 1981 neun streikende
Bergleute von der ZOMO umgebracht wurden8, doch all diese Prozesse basierten
auf dementsprechende Anklagen. Nicht ohne Grund werden deshalb bei dem
aktuellen Verfahren gegen Wojciech Jaruzelski und seine damaligen Mitstreiter
von manchen politische Hintergründe vermutet9.
Und tatsächlich, in den letzten
Jahren, vor allem aber während der Kaczyński-Regierung, geriet Wojciech
Jaruzelski erneut in den Fokus der Politik. Für die Kaczyńskis und die
gesamte Rechte fungiert er als das Symbol des bösen Kommunisten, dem es auch in
dem demokratischen Polen gut geht, zu gut geht. So sprach sich Jarosław
Kaczyński beispielsweise für die Streichung der Privilegien und eine
Rentenkürzung für Jaruzelski und andere Vertreter der Volksrepublik aus und erntete
dafür Zustimmung von einem Großteil der Bevölkerung. Und ähnliches versucht nun
die liberale Regierungspartei PO, die sich Ende September ebenfalls für eine Kürzung der Renten ehemaliger
kommunistischer Führer aussprach10.
Dass diese populistischen
Forderungen auf Zustimmung stießen und stoßen, ja dass die polnische Rechte in
den letzten Jahren überhaupt Erfolg haben konnte, liegt auch an der seit der
Wende existierenden III. Republik. Das neue demokratische Polen hat es einfach
nicht vermocht, seine kommunistische Vergangenheit aufzuarbeiten. Historiker
haben zwar seit 1989 freien Zugang zu den Archiven und leisten eine
hervorragende wissenschaftliche Arbeit, doch der „dicke Schlussstrich“, der von
Tadeusz Mazowiecki eigentlich als eine Geste des guten Willens und Chance eines
gesellschaftlichen Neubeginns gedacht war, ließ eine endgültige Aufarbeitung,
wie es sie zum Beispiel in der ehemaligen DDR - obwohl die Birthler-Behörde
auch nicht gerade ein Ort der Objektivität ist -, und anderen sozialistischen
Staaten gab, nicht zu.
Seitdem werden in Polen immer
wieder ehemalige kommunistische Agenten entlarvt, und dies meistens nur aus
politischen Gründen. Lech Wałęsa kämpft seit 1992 gegen den Vorwurf
an, als IM Bolek (Vom Missbrauch der Geschichte11) in
den 70er Jahren Mitstreiter verraten zu haben. Selbst die katholische Kirche,
einst Bollwerk gegen das kommunistische Regime, muss sich und der Gesellschaft
eingestehen, von Stasispitzeln unterwandert gewesen zu sein und sich von dieser Last niemals gereinigt zu
haben (Eine polnische Kulturrevolution12).
Und nun, fast 27 Jahre nach der
Verhängung des Kriegsrechts und 19 Jahre nach der Wende, müssen sich Wojciech
Jaruzelski und sechs weitere Angeklagte für ihre Entscheidung verantworten.
Doch im Grunde genommen stehen diese alten Männer nur stellvertretend für die
III. Republik vor Gericht und ihre vertane Chance,
die Vergangenheit nicht konsequent aufgearbeitet zu haben. Ähnlich muss
jedenfalls auch Czesław Kiszczak
denken, ebenfalls ehemaliger General und Innenminister in den 80er Jahren, der
trotz Anklage bisher zu keinem einzigen Verhandlungstermin erschienen ist.
„Jaruzelski lebt in einer Phantasiewelt“
Ganz anders dagegen Wojciech
Jaruzelski. Keinen einzigen Verhandlungstag ließ der ehemalige General aus.
Stehend, mit geradem Rücken und fester Stimme plädierte er auf unschuldig und
begründete13 bis jetzt in vier Anhörungen die Verhängung des Kriegsrechts, mit den von ihm bekannten Argumenten. „Die Sowjets wollten
nicht, aber im Falle des Falles hätten sie es gemusst“14, erklärte Jaruzelski am vergangenen Dienstag,
dem bisher letzten Verhandlungstag, bei dem es allein um die Gefahr einer
möglichen sowjetischen Intervention ging. Als Beweise führte er Aussagen damals
westlicher und östlicher Politiker an. „Behauptungen, es hätte Bitten um
brüderliche Hilfe gegeben, sind eine Beleidigung für das polnische Militär“,
sagte der ehemalige General erzürnt zu den schon erwähnten Vorwürfen.
Doch solche Begründungen nehmen
heute die meisten Historiker Jaruzelski nicht mehr ab. „Jaruzelski lebt in
einer Phantasiewelt, in der er eine selbst geschaffene Rolle in der polnischen
Geschichte spielt“, sagt15 der bekannte Krakauer Historiker Antoni
Dudek und verweist auf Dokumente, die schon in den
90er Jahren veröffentlicht wurden. Auch der Historiker Wojciech Roszkowski beruft16
sich auf diese Dokumente: „Die Gefahr einer sowjetischen Intervention in Polen
war nicht unbedingt gegeben.“
Auch ich lasse die Argumente
Jaruzelskis seit Jahren nicht mehr gelten. Viele wichtige Dokumente, die
endgültig die Wahrheit ans Licht bringen könnten, sind zwar noch in den
russischen Archiven verschlossen, doch so manches, was heute bekannt ist, lässt
Zweifel aufkommen an einer möglichen sowjetischen Intervention in Polen.
Vielmehr dürfte die Verhängung des Kriegsrechts ein innerpolnischer Akt gewesen
sein, der das kommunistische Regime an der Macht erhalten sollte. Ein Akt, der
fast 10.000 Oppositionelle in Internierungslager brachte und wahrscheinlich 122
Menschen das Leben kostete.
Doch wenn ich im polnischen
Fernsehen den Prozess verfolge, sehe ich nicht den gleichen bösen General wie
1981, der er damals für mich war, sondern einen alten Mann. Einen alten Mann,
dem die Hände zittern, dem es aber die „Ehre als polnischer Offizier
verbietet“, sich während des Plädoyers zu setzen, obwohl es ihm die Richterin
angeboten hat. Und bei diesem Anblick verspüre ich, wie die meisten mir
bekannten Polen, nur Mitleid. Mitleid mit einem 85-Jährigen, den die Geschichte
schon längst verurteilt hat - zu einer tragischen Person, die unter der Last
ihrer Entscheidung leidet, auch deshalb, weil sie den endgültigen Niedergang
der Volksrepublik, an die Jaruzelski geglaubt hat, nur um ein Jahrzehnt
verschoben hat. 1989 leitete der General selber die Demokratisierung ein. Einen
anderen Ausweg hatte er damals nicht mehr. 26.10.2008
(Übersetzung:
Dagmar Kriebel, Straußberg)
(1)
http://www.youtube.com/watch?v=sP6 DzgrY5Ds&feature=related
(2)
http://www.wojciech-jaruzelski.pl
(3)http://dhi.waw.pl/cms/bib/grec.php?urN=18786
(4)
https://portal.d-nb.de/opac.htm? method= showFullRecord¤tResultId=1137243647 ¤tPosition=2a
(5)
http://dispatch.opac.ddb.de/DB=4.1/ SET=1/TTL=1/SHW?FRST=1
(6)
http://www.wilsoncenter.org/topics/ pubs/New_Ev_PolCrisis_8081.pdf
(7)
http://www.ipn.gov.pl/portal/en/
(8)
http://wiadomosci.wp.pl/kat,1342,title,
6-lat-wiezienia-dla-dowodcy-ZOMO-ws-kopalni-Wujek,wid,10086537,wiadomosc.
html?ticaid=16d17
(9) http://www.trybuna.com.pl/n_show. php? code=2008100812
(10) http://www.tvp.info/news.html?directory=120&news=797132
(11)
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/28/ 28355/1.html
(12)
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/24/ 24415/1.html
(13)
http://wyborcza.pl/1,91446,5810819,
Jaruzelski__grozba_interwencji_byla_realna__opis_.html
(14)
http://wyborcza.pl/1,75478,5836188,
Nie_prosilismy_o_bratnia_pomoc___twierdzi_Jaruzelski.html
(15)
http://www.dziennik.pl/wydarzenia/
article250996/Dudek_Nowe_dokumenty_obciaza_Jaruzelskiego.html
(16)
http://www.wiadomosci24.pl/artykul/ roszkowski_grozba_radzieckiej_interwencji_
nie_byla_w_polsce_79244.html
Wir danken dem Autor und dem Heise Zeitschriften Verlag für das
Abdruckrecht.