Gedenkjahr 2009, oder: nicht alles war schlecht?

Von Friedrich Leidinger

 

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,

Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,

Wenn hinten, weit, in der Türkei,

Die Völker aufeinander schlagen.

Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus

 

Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;

Dann kehrt man abends froh nach Haus,

Und segnet Fried' und Friedenszeiten.

 

Johann Wolfgang von Goethe: Faust - der Tragödie erster Teil. Vor dem Tore.

 

Von Etappe zu Etappe arbeitet sich das deutsche Gedenkjahr 2009 seinem vorläufigen Höhepunkt entgegen, doch ist die Feierlaune längst nur gedämpft. Was sollte uns nicht alles in diesem Jahr in gehobene Stimmung versetzen: Das Grundgesetz wird 60; die BRD feiert Geburtstag. Die DDR wurde auch im selben Jahr gegründet, feiert aber nicht mehr. Vor 50 Jahren führte das Saarland die D-Mark als Währung ein. Vor 20 Jahren fiel die Mauer. Vor 15 Jahren verließen die letzten sowjetischen Truppen Deutschland. Vor 10 Jahren zogen Bundestag und Regierung von Bonn nach Berlin.

Ein „Supergedenkjahr“. Deutschland, eine Erfolgsgeschichte, liest man in den Sonderausgaben der Magazine. Wir haben eine stabile Demokratie, wer hätte das vor Jahren für möglich gehalten? Wir sind ein kultiviertes Volk: Vor 2000 Jahren verlor der Feldherr Varus in der Schlacht beim Teutoburger Wald drei Legionen an wortbrüchige germanische Hilfstruppen und stürzte sich in sein Schwert. Vor 1000 Jahren wurde der Mainzer Dom geweiht. Wir haben ein Haydn-Jahr (gestorben 1809) und ein Mendelssohn-Jahr (geboren 1809).

Wir sind ein vergessliches Volk: Fast unbemerkt verstrich in diesem Frühjahr der zehnte Jahrestag der Bombardierung Belgrads durch deutsche Flugzeuge; nur ein Jahrzehnt trennt uns von der als „Kollateralschaden“ bezeichneten Ermordung hunderter serbischer Zivilisten durch die Luftwaffe der Bundesrepublik, wofür die Angehörigen erst vor einem Jahr vergeblich Gerechtigkeit vor deutschen Gerichten gesucht haben. Alle historischen Beweise liegen längst vor: Es war ein völkerrechtswidriger Krieg, den die NATO unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesrepublik herbeiführte, ein grundgesetzwidriger Krieg in der Verantwortung der ersten rot-grünen Regierungsmehrheit im Bundestag und ihres Kanzlers Schröder, zynisch vom sozialdemokratischen Verteidigungsminister und seinem grünen Außenministerkollegen herbei gelogen mit dem Argument, es gelte, ein „neues Auschwitz“ zu verhindern, notabene mit deutschen Bomben auf Serbien.

Nun also der 1. September. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Als Gedenktag spielt er bei den Siegermächten, die im Juli 1945 in Potsdam und im Sommer 1990 in den 4+2-Verhandlungen über eine Friedensordnung berieten, keine Rolle. Für die Tschechen symbolisiert der 29. August 1938 mit dem Münchner Abkommen die deutsche Aggression, für die Menschen in West- und Nordeuropa begann der Krieg im Frühjahr 1940, für Jugoslawen und Griechen im April 1941 und für Russen, Weißrussen und Ukrainer mit dem „Fall Barbarossa“, dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion vom 21. Juni 1941.

Der 1. September aber ist ein deutsch-polnischer Tag. In seinen frühen Morgenstunden, als das Linienschiff „Schleswig-Holstein“ auf Freundschaftsbesuch im Danziger Hafen die ersten Schüsse auf die polnischen Stellungen auf der Westerplatte abfeuerte und Wehrmacht und Luftwaffe auf breiter Front die polnische Grenze überquerten, lag der Beginn eines Krieges, wie man ihn bisher nicht kannte. An diesem ersten Tag des Krieges entledigte sich die politische und militärische Führung des nationalsozialistischen Deutschland der letzten zivilisatorischen Rücksichtnahmen, die ihr bis dahin noch Zurückhaltung auferlegt hatten, und entfesselte den Krieg als terroristisches Instrument totaler Herrschaft.

Kaum jemand weiß in Deutschland genaueres von der Realität, die sich unter der deutschen Besatzung in Polen abspielte. Wer kennt schon die surrealen Drangsalierungen, die Razzien, die Deportationen und daneben ganz gewöhnlicher Hunger, Zwangsarbeit, Raub, Mord. Polen war das Experimentierfeld für die geplante totale Unterwerfung und Beherrschung des gesamten eurasischen Raumes bis hin zu den Steppen jenseits des Ural. Und Beherrschung meinte die physische Vernichtung oder Schwächung aller Völker, die sich dem Herrschaftsanspruch der Deutschen widersetzen oder ihm sonst gefährlich werden könnten. Experimentierfeld, das ist wörtlich zu verstehen: „Sonderlaboratorium SS“ war der Tarnname einer Aktion, bei der 1942-43 im Bezirk Zamoœæ („Himmlerstadt“) die polnischstämmige Bevölkerung erfasst und interniert wurde; die nach rassischen Kriterien „eindeutschungsfähigen“ Säuglinge und Kleinkinder wurden über den „SS-Lebensborn“ zur Adoption gegeben, die übrigen in Konzentrationslagern ermordet (siehe auch Bericht zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in dieser Ausgabe!). Ohne Umschweife erklärte die deutsche Führung im September 39 die Polen zu ebensolchen „Untermenschen“, wie es die Juden in der NS-Propaganda seit längerem waren.

Schon in den ersten Stunden des Krieges verhafteten und ermordeten Soldaten und Sonderpolizei unabhängig von militärischer Zweckmäßigkeit und fernab des Schlachtfeldes Zivilisten: Priester, Lehrer, Politiker, Ärzte, Gendarmen - Personen, die man für den geistigen Zusammenhalt des polnischen Volkes, die Erhaltung seiner kulturellen und religiösen Identität für wichtig erachtete, wurden in Massen zusammengetrieben und ermordet. Die Namensliste der zu „Liquidierenden“ - die neue Fachsprache der „Arier“ ist als LTI, als „Lingua Tertii Imperii“ in die Geschichtsbücher eingegangen - war in monatelanger Vorbereitung von Ostexperten im Reichssicherheitshauptamt zusammengestellt worden.

Dieses Morden hatte noch persönlichen Charakter. Die Namen der Opfer konnte man bald in allen größeren polnischen Städten auf zweisprachigen Plakaten lesen. Nahezu gleichzeitig begannen die Deutschen mit der Ermordung behinderter oder psychisch kranker Menschen in polnischen Anstalten und Krankenhäusern. Angehörige der deutschen Minderheit in Polen leisteten dabei gelegentlich wertvolle Hilfsdienste. In Świecie (Schwetz) an der Weichsel überfiel am 10. September der Brauereibesitzer Rost mit etwa 30 Bewaffneten des volksdeutschen „Selbstschutzes“ aus dem wenige Kilometer entfernten Bydgość (Bromberg) und mit Unterstützung einiger Männer des SS-Wachsturmbanns Kurt Eimann die voll belegte psychiatrische Anstalt und nahm die Ärzte und das Personal fest. Innerhalb von sieben Tagen ermordeten die Eindringlinge eintausend Kranke. Die Bewohner der umliegenden Dörfer zwang man, Gräben auszuheben; die Kranken wurden dorthin gefahren und einzeln erschossen. 300 bis 400 Kranke wurden nach Kocborowo (Konradstein) bei Danzig „evakuiert“; auch dort wurden bald alle Kranken, so wie überall in Polen ermordet. Insgesamt ermordeten die Deutschen während der Besatzung in Polen zwischen 10.000 und 15.000 Kranke, nicht selten gemeinsam mit ihren Betreuern und Ärzten.

Schon bald drängten die Truppenführer der Sondereinsatzgruppen darauf, das Töten zu rationalisieren. Am  15. Oktober führten Männer des SS-Sonderkommandos Lange eine Gruppe von Patienten der Heilanstalt Owińska bei Poznañ in einen provisorisch hergerichteten Bunker des Posener Forts VII. Das Eisentor wurde hermetisch geschlossen, und ein Arzt leitete giftiges Kohlenmonoxidgas ein, bis alle Eingesperrten erstickt waren. Die erste Massentötung mit Giftgas in der Geschichte der Menschheit lieferte das Modell für den nun folgenden Genozid.

Der Krankenmord war ähnlich wie die Ermordung der polnischen Intelligenz planmäßig vorbereitet worden. Bereits seit Monaten arbeitete ein Stab von Experten in der Kanzlei des Führers an einer Organisation zur Tötung aller unheilbar kranken und dauerhaft behinderten Anstaltspfleglinge im Reich. In der Tiergartenstraße 4 („T4“) in Berlin residierte von 1939 bis 1941 das zentrale Büro des Unternehmens, das in seinen 6 Tötungsanstalten, mit einem eigenen Transportunternehmen und mit Ärzten, Technikern und Beamten die Ermordung von 250.000 Menschen im Reich betrieb. Ermächtigt waren sie durch einen Erlass Hitlers vom Herbst 1939, rückdatiert auf den 1. September. Als im Sommer 1941 die Gestapo Anzeichen der Beunruhigung in der deutschen Bevölkerung meldete, wurde „T4“ aufgelöst. Das Morden ging dezentral weiter, und viele „T4“-Mitarbeiter setzten ihre Karrieren bei der Ermordung der Juden fort.

Am 1. September 39 kam der Prozess der Vernichtung der europäischen Juden in Gang. Seit Beginn der NS-Herrschaft waren Juden in Deutschland systematisch erniedrigt und geschmäht und schrittweise ihrer bürgerlichen Rechte und ihres Vermögens beraubt worden. Viele waren in Gefängnissen und Lagern interniert, viele waren ermordet worden. Aber nach dem 1. September war die weltweit größte jüdische Population in Polen den Deutschen ausgeliefert. Allein in Warschau lebten so viele Juden wie im ganzen Deutschen Reich. Es begannen die Deportationen in Lager und „Ghettos“. Ghettos? In der fast tausendjährigen polnisch-jüdischen Geschichte waren die Juden in Polen nie in Ghettos eingesperrt. Unbeschreiblich und unfassbar ist der Terror, der unter deutscher Herrschaft hinter den Mauern der „jüdischen Wohnbezirke“ in Warschau, Krakau oder Łódź („Litzmannstadt“) und in vielen kleineren Orten Alltag war. Ein Massensterben war die Folge, und doch war es reichte nicht aus, um alle Juden zu töten. Massenerschießungen, wie sie seit Kriegsbeginn immer wieder stattfanden, verursachten Aufwand und Zeit. Die Todestechnologie der „T4“ war die Grundlage für das industrielle Töten in Auschwitz, Majdanek, Bełżec und Treblinka, und in den vielen mobilen Gaskammern und Gaswagen, die an ungezählten Orten zum Einsatz kamen.

Auschwitz, der Ort, der zur Metapher wurde. Auschwitz, ein deutsches Lager, Untersuchungsgefängnis, Hinrichtungsstätte, Internierungslager, Arbeitslager, Massenmordfabrik - und medizinische Forschungsstätte, Außenstelle der hoch angesehenen Forschungsgesellschaft, Kaderschmiede für gegenwärtige und spätere Nobelpreisträger, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, heute Max-Planck-Gesellschaft. Hier fanden die Assistenten Otmar von Verschuers (Mengele, Rasse- und Zwillingsforschung), Peter Thiessens (Giftgas) und Richard Kuhns (organische Chemie, Pharmazie) optimale Arbeitsbedingungen und menschliches „Untersuchungsmaterial“ ohne jegliche Beschränkung. Hier experimentierte Claus Clauberg an weiblichen Häftlingen, um eine Methode zur massenhaften Sterilisierung ganzer Völker zu finden.

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland (Paul Celan), doch die deutsche Sprache kennt keinen Begriff, der angemessen wäre. „Holocaust“ gelangte als Kunstwort erst 1979 mit der Übernahme einer amerikanischen Fernsehserie durch die ARD in unseren Wortschatz. Das hebräische „Shoah“ hören wir dagegen seltener in den Reden der politisch gepflegten Erinnerung. Es widersetzt sich hartnäckig allen Eingemeindungsversuchen und bleibt schmerzhaft fremd, als wolle es dadurch den Schrecken und Entsetzen, für die es steht, symbolisieren. Aber können wir überhaupt noch erschrecken? Erfasst uns Entsetzen, wenn uns die Bedeutung des 1. Septembers bewusst wird?

1957 erklärte der DGB den 1. September zum Antikriegstag. In der DDR feierte man am 1. September den „Weltfriedenstag“. Anfang der 1970er Jahre zogen sich SPD und DGB aus den Aktionen zum 1. September zurück, da sie keine Zusammenarbeit mit Kommunisten wollten. Trotzdem gingen seinerzeit an diesem Tag Tausende auf die Straße. Sie zogen vor Bundeswehrkasernen und auf den sowjetischen Soldatenfriedhof Stukenbrock. 1979 sprach der DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter wieder auf der Hauptkundgebung in Dortmund. In den 1980er Jahren beteiligten sich Millionen an den Aktionen zu diesem Tag.

Und nun der 1. September im „Supergedenkjahr“ 2009. Was erwarten wir von diesem Tag? Natürlich, nie wieder Krieg! Aber den wollten die Deutschen eigentlich schon vor 70 Jahren nicht, denn trotz der aus allen Rohren feuernden Goebbels'schen Propagandaartillerie blieb die öffentlich gezeigte Stimmung im September 1939 doch verhalten und blieb stark hinter der 25 Jahre zuvor gezeigten, hysterischen Kriegsbegeisterung vom August 1914 zurück. Aber dass ein demokratischer Staat Krieg ohne oder gegen die Mehrheit der Bevölkerung führen kann, zeigen uns unsere und die Regierungen zahlreicher EU-Länder zurzeit in Afghanistan. Indessen erreicht der Wert der deutschen Rüstungsexporte neue Rekordhöhen und lag 2007 mit 8,7 Milliarden EURO fast eine Milliarde über dem Vorjahrsergebnis.

Der 1. September steht dieses Jahr im Zeichen deutscher Geschichtsversessenheit. Die Vergangenheit wird nicht geleugnet, sie wird auch nicht umgeschrieben, sie wird lediglich „umcodiert“ (Norbert Frei). Die Kriegskinder waren keine Täter, also sehen sie sich auf der Seite der Opfer. Die kollektive Sucht nach Selbstvergewisserung sieht uns in Ermangelung von Bösewichten auf der Seite der „Guten“. Die Bombenopfer Dresdens, Berlins und Hamburgs, die wir in „History“ - Features á la Knopp noch einmal brennen lassen, die vergewaltigten Frauen, die anonym von ihrem Schicksal berichten, die „Vertriebenen“, die wir uns immer noch Millionen an Fördermitteln für ihre „Kultur- und Bildungsarbeit“ kosten lassen und auf deren Pfingsttreffen kein Politiker von Rang fehlen darf, Politiker fast aller Parteien, die bedenkenlos vom „Unrecht der Vertreibungen“ sprechen, die Routine, mit der inzwischen Opfergedenkstätten errichtet werden, wo man besser über die Täter sprechen sollte - das alles scheint uns zu bestätigen, dass wir, die Deutschen, die ersten Opfer dieses Krieges geworden sind, der am 1.9.39 begann.

Manch einer wird da wohl zum Siegertreppchen schielen und sich fragen, ob man nicht auch darauf gehört. Und in gewisser Weise hat er Recht. Denn wenn man die Dreistigkeit wahrnimmt, mit der sich bundesdeutsche Politiker seit Jahrzehnten erfolgreich bemühen, die Kosten für das Scheitern des Dritten Reichs so niedrig wie möglich zu halten und nur gerade eben so viel an „Wiedergutmachung“ zu zahlen, wie unbedingt erforderlich war, und die mit ihren Verwaltungsvorschriften und Gerichtsurteilen die Überlebenden und die im Vergleich zu den Verbrechen unerhörte Nachsicht und Milde der Sieger verspottet haben, der wird nicht mehr daran glauben können, dass mit dem Grundgesetz von 1949 ein wirklicher Bruch mit der Vergangenheit und ein neuer Anfang beabsichtigt war. Stattdessen kommt Franz Josef Strauß, großmäulige Leitfigur der Konservativen posthum zu späten Ehren für seinen Satz, dass ein Volk wie unseres, das „diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, (...) ein Recht darauf (hat), von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen (1969)“.

 

Die Ermordung der Kranken der Anstalt Świecie:

Zeugenaussage des Aleksander Zielonka im Prozess gegen den Danziger Gauleiter Albert Forster:

Tag für Tag kamen Lastkraftwagen zur Anstalt gefahren. Auf einen wurden jeweils sechzig Kranke geladen. Es kamen mindestens zwei Fahrzeuge. Sie wurden irgendwo in die Gegend von Jeżewo gebracht und dort am Wald erschossen. (...) Die Liquidation dauerte etwa fünf, sechs Tage. Die übrigen Kranken, es waren 350 bis 370, wurden nach Kocborowo transportiert, wo sie auch erschossen wurden. Aus dem Munde eines Deutschen, der ein gutes Verhältnis mit den Polen unterhielt und für ein Gläschen Wodka viel erzählte, habe ich vom Verlauf der Exekution erfahren, bei der dieser Deutsche anwesend war. Er erzählte, dass aus dem Fahrzeug jeweils drei Kranke geführt wurden und im Bereich des Hinterkopfs erschossen wurden.

Danach wurde mit der Liquidation des Kinderpavillons begonnen. Die Kinder haben sich gefreut, dass sie mit einem Auto fahren, derweil wurden sie erschossen. Die Kinder wurden auf folgende Weise ermordet. Erst wurden sie alle auf eine Wiese gelassen und anschließend wurde auf sie geschossen wie beim Scheibenschießen.