Über Polen und Deutschland, Unrecht und
Versöhnung
Gespräch mit Prof.
Puw:
Herr Prof. Bartoszewski, im November 2006 sah der
damals frisch in Berlin eingetroffene polnische Botschafter Dr. Marek Prawda
die deutsch-polnischen Beziehungen in einer „Vertrauenskrise“. Inzwischen fanden in Polen Sejmwahlen und in ihrer Folge ein
Regierungswechsel statt. Beides wurde von der deutschen Politik mit
außergewöhnlicher Aufmerksamkeit und großen Erwartungen verfolgt. Sie sind seit
November 2007 außenpolitischer Berater der Regierung Tusk.
Wie beurteilen Sie heute den Zustand der Beziehungen?
Prof. Bartoszewski:
Das Amt, das ich jetzt bekleide, heißt „Beauftragter des Premierministers für
Internationalen Dialog“, das heißt in der Praxis Dialog mit Deutschland, mit
Israel und mit Juden in der Diaspora. Diese denkwürdige Aufgabenbeschreibung
hat nicht allein Bezug zu den historischen Ereignissen in Europa, sondern auch
- was eigentlich nicht sein sollte - zur Person des Beauftragten. Ich bin
Ehrenbürger des Staates Israel, wenngleich ich bekanntlich polnischer Katholik
aus einer - wie man einmal gesagt hat - „rein arischen“ Familie bin, und für
viele Juden in der Welt vertrauenswürdig. Und Vertrauen ist nun einmal überall
in der Welt die Voraussetzung, wenn man miteinander in Beziehung treten und
etwas erreichen will. Und Vertrauen besteht nicht immer zwischen stark
betroffenen Juden in Israel und sonst wo in der Welt oder in Mittel- und
Osteuropa und den anderen, den Nicht-Juden, egal zu welcher Generation sie
gehören. Das Verhältnis ist leider bis heute nicht ganz normal, sondern immer
noch belastet. Ein ehemaliger israelischer Botschafter in Polen hat mir einmal
gesagt: „Weißt Du, die Beziehungen der Juden zu Deutschen und die Beziehungen
der Juden zu Polen werden - wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen - nie
normal sein. Sie werden vielleicht besser als ‚normal' oder schlechter als
‚normal' sein, aber niemals so wie die Beziehungen zu Südafrika oder Portugal.
Für diese Beziehungen gilt eine andere ‚Normalität'.“ Das ist das historische
Erbe, an dem wir tragen, vielleicht ein schmerzliches Erbe, aber auch ein
großes Versprechen, denn es gibt uns auch die Chance zur Reflexion. Und wenn
man darüber reflektiert, dann eröffnen sich ganz neue Haltungen und
Einstellungen und entsteht auch neues Interesse.
Jedenfalls
hat man mich ernannt und nun bin ich seit einem Jahr und 4 Monaten im Amt; das
ist wenig Zeit, aber wenn man schon vorher konkrete Kommunikationskanäle und
Gesprächspartner gehabt hat, dann reicht das, um ein neues Netzwerk des
Vertrauens entstehen zu lassen. Und der Premierminister Donald Tusk hat als Angehöriger einer kleinen Volksgruppe in Polen
- das sind die Kaschuben - vielleicht auch ganz persönlich mehr Sensibilität
für die Situation einer Minderheit.
Und was bedeutet das für die
deutsch-polnischen Beziehungen?
Wir haben
direkt am Anfang ein Signal gesetzt, das auch positiv aufgenommen wurde. Wenige
Tage nach seiner Vereidigung war der neue Premier mit mir, dem neuen
Beauftragten am 11. Dezember 2007 in Berlin bei der Bundeskanzlerin und beim
Bundespräsidenten, und ich habe ihn dabei begleitet. Das war nicht der erste
Staatsbesuch, denn vier Tage vorher waren wir beim Papst, und der ist auch ein
Deutscher, ein Bayer, den Besuch habe ich auch vermittelt, aber ich bin ja auch
ein bayrischer Professor.
Bis vor
kurzem, bis Februar waren wir eigentlich der Meinung, es gibt keine besonderen
Probleme. Natürlich gibt es da große Probleme, die kein Mensch so vorhersehen
konnte - die Bankenkrise, die Wirtschaftskrise - und die betreffen uns mittelbar,
denn anders als Deutschland hat Polen wirtschaftlich und finanziell kaum etwas
mit Amerika zu tun, aber wir sind von Deutschland abhängig, und wenn es in
Deutschland Probleme wirtschaftlicher Art gibt, dann hat das auch Folgen für
uns. Sehen Sie nur einmal zum Beispiel das Versicherungswesen in Polen, das ist
in der Hand zweier deutscher Unternehmen. Auch bei den Banken gibt es zahlreiche
Verbindungen und Abhängigkeiten. Auch ich führe mein Konto bei der
Raiffeisenbank.
Und in dieser
Krise spüren wir natürlich auch spezifische Probleme wischen uns. Nehmen Sie
den Arbeitsmarkt. Der Arbeitsmarkt sollte eigentlich seit Mai dieses Jahres
offen sein . Und nun wird das entgegen der
ursprünglichen Planung der Europäischen Kommission wieder verschoben. Kein deutscher
Bundeskanzler kann sich das erlauben, in Zeiten der Krise zusätzliche
Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zuzulassen. Irgendwo kann man das auch
verstehen, aber im Alltag sieht das so aus, als würden die Deutschen ihre
Zusagen nicht einhalten. Es sind gewisse Signale Einzelner - das sage ich mit
Betonung, die man in Polen bei einfachen Menschen nicht positiv bewertet.
Dagegen stehen viele positive Erfahrungen gerade auch der einfachen Menschen im
Bereich privater Kontakte, kleiner Geschäfte und Dienstleistungen. Gerade
zwischen den Bundesländern und Wojewodschaften auf
beiden Seiten der Grenze gibt es wunderbare Kooperation, auch in einem „grauen
Bereich“, und die Ministerpräsidenten und die Wojewoden
wissen davon, ich habe mit denen gesprochen. Natürlich muss man das im Auge
behalten und darf nicht zulassen, dass es zu organisierter Kriminalität und
Steuervergehen kommt.
Und wie bewerten Sie das, wenn die deutsche
Politik durch ihre Weigerung, den Arbeitsmarkt für Polen zu öffnen, die
Vorstellung nährt, die polnischen Migranten nehmen
den Deutschen die Arbeitsplätze weg?
Sehen Sie,
die Wirtschaftsleute in der Union sehen das anders, als die Wähler. Das ist
doch nicht nur in Deutschland ein Problem. Natürlich gibt es hier die NPD, aber
in Polen haben wir auch solche Leute. Die wollen am liebsten alles
zurückdrehen. Die sagen dann: Ja, die Deutschen haben uns da über den Tisch
gezogen. Jetzt sind uns die Hände gebunden und wir sind völlig abhängig. Und
leider gibt es dann Menschen in vielen Ländern, die auf populistische Parolen
hereinfallen. Da gibt es sogar wirtschaftlich und intellektuell gebildete
Menschen darunter, die sich politisch völlig idiotisch verhalten.
Aber reden
wir nicht allein über Wirtschaft. Wirtschaft spielt sicher eine große Rolle,
aber bei den Polen gibt es da Ressentiments und Ängste, und die sind noch nicht
verschwunden, und werden auch nicht in den nächsten 15 bis 20 Jahren
verschwinden, denn - bitte, vergessen wir nicht - jede Belebung des - so nenne
ich das - revisionistischen Business beunruhigt die Leute. Man behauptet, in
Deutschland sagen die jungen Leute jetzt, wir haben auch ein Recht auf die historische
Wahrheit. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich in der Zeit, als ich in
Deutschland gelebt habe, eine elfbändige Dokumentation über „Flucht und
Vertreibung“ gekauft. Elf Bände! Das konnte man damals problemlos erwerben.
Übrigens habe ich das im Versandbuchhandel gekauft, weil niemand das in den
Buchläden kaufte. Also, es ist nicht wahr, wenn jetzt behauptet wird, das sei
tabuisiert gewesen, man habe nicht darüber sprechen und nichts darüber erfahren
können. Alle Informationen waren verfügbar! Seit den fünfziger Jahren! Nur
hatte die Gesellschaft in Deutschland damals vielleicht andere Probleme.
Bei Ihrem Besuch im Dezember 2007 sind Sie
doch bestimmt von Frau Merkel auf das „Zentrum gegen Vertreibungen“
angesprochen worden, und ein paar Tage später konnte man von Herrn
Kulturstaatssekretär Neumann hören, Polen habe seinen Widerstand gegen das
„Zentrum“ aufgegeben.
Das ist nicht
ganz richtig. Herr Neumann hat uns in Warschau besucht und wir haben
vereinbart, dass aus dem Zentrum alle „Germanophoben“ und „Polonophoben“
Menschen herausgehalten werden. Man muss doch nicht Versöhnung mit Menschen
machen, die sich prinzipiell dagegen aussprechen und die gar kein Interesse
daran haben. Das haben wir am 15. Februar 2008 in Warschau schriftlich fixiert
und gemeinsam unterzeichnet. Und von der polnischen Seite haben wir uns bis zum
letzten Punkt daran gehalten. Wir haben in allen Bereichen, auf denen die
Zusammenarbeit ins Stocken geraten waren, auf unserer Seite die Hindernisse
beseitigt und Fördermittel bereit gestellt, nehmen Sie nur das
Deutsch-Polnische Jugendwerk.
Und dann
hatte man uns damals gesagt, dass die deutsche Regierung - keine Non-Government Organisation - ein Museum machen will, und
dass die Koalition beschlossen hat, eine Expertenkommission von Historikern und
Museumsleuten einzuberufen, die soll vielleicht mit internationaler Beteiligung
ein Konzept entwickeln. Und da haben wir gesagt, macht, was Ihr wollt, aber
passt auf, was Ihr macht! Wir werden das genau beobachten und uns melden, sofern
etwas schief läuft, und im Übrigen werden wir schweigen. Und dann haben wir in
der Tat ein Jahr zugeguckt und geschwiegen. Natürlich können wir die
populistische Presse nicht zügeln und auch unserem Präsidenten keinen Maulkorb
umhängen. Aber wir haben geschwiegen. Ein Jahr lang war es still um das Zentrum
und das Kuratorium. Und plötzlich lesen wir in der Zeitung, dass die
Bundesregierung an verschiedene Organisationen herangetreten ist, sie sollten
bitteschön Vertreter entsenden, und schon erfahren wir, dass da eine Initiative
bereits ihre Kandidatin nominiert hat, die steht schon fest! Und wir lesen,
dass die Bundesregierung die Entscheidung über die Berufung in diese Kommission
dieser Initiative überlassen will. Und Experten, das sind hier doch Historiker
und Museumsleute und keine Biologen! Das haben wir in keiner polnischen Zeitung
gelesen, sondern im SPIEGEL. Und dann begann eine Kampagne, wo eine Dame gegen
eine andere Dame aus derselben Partei ausgespielt wurde.
Glauben Sie denn, dass die Bundesregierung
und der Bundestag in Bezug auf das „Zentrum“ ein wissenschaftliches Anliegen
haben? Ist es nicht vielmehr so, dass sie ein politisches Interesse verfolgen?
Die Bundeskanzlerin hat vor drei Tagen beim Empfang des Bundes der Vertriebenen
in Bezug auf das „sichtbare Zeichen“ erklärt: „Unrecht muss als Unrecht benannt
werden“. Gleichzeitig ruft sie dazu auf, den „schwierigen Weg der Versöhnung zu
gehen“. Wie passt das zusammen? War die zwangsweise Aussiedlung der Deutschen
aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ‚Unrecht'? Fast alle Politiker in
Deutschland sind sich mit Frau Merkel darin einig, dass die Vertreibung der
Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten ‚Unrecht' war.
Ja da sollen
sie doch verhandeln, mit Großbritannien, USA und Russland, nicht mit uns!
Aber wie sehen Sie das? War die Vertreibung
völkerrechtlich Unrecht?
Ich bin kein
Jurist. Nach meiner Kenntnis war das alles vor der Gründung der UNO, vor der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und war der Nürnberger Prozess
vielleicht Unrecht? Viele deutsche Juristen waren über Jahre dieser Ansicht.
Selbst heute noch kann man bisweilen solche Stimmen vernehmen. Nach unserer
Meinung waren diese 12 Prozesse kein Unrecht. Es ist zwar richtig, dass die
Normen, nach denen geurteilt wurde, von anderen nachträglich formuliert wurden,
aber das war kein Unrecht. Das war eine einmalige Situation. Und bedenken Sie,
welch enger Zusammenhang zu den einzigartigen Verbrechen besteht, die von
Deutschland zu verantworten waren. Sie können das alles doch nicht davon
trennen.
Und jetzt zeigt man in Deutschland
Unverständnis für Ihre Kritik an Frau Steinbach?
Ich
persönlich engagiere mich seit über 50 Jahren ununterbrochen für die
deutsch-polnische Versöhnung. Das habe ich damals schon mit dem Krakauer
Erzbischof Karol Woytyła gemeinsam in der
Redaktion von „Tygodnik Powszechny“
angefangen. Und Sie können sicher sein, dass ich in diesen Jahren nicht nur
Unterstützung und Zuspruch gefunden habe. Ich kann das inzwischen alles
ertragen. Ich habe das nicht getan, um nur Beifall zu hören, nie. Aber hier
wird doch eine ganz falsche Perspektive eingenommen. Das ist doch nicht das
Problem einer Person, die haben wir doch nicht erfunden! Ich habe in meiner
Antwort auf den offenen Brief des Bundestagspräsidenten Lammers,
über den die ganze Presse in Deutschland berichtet hat, nur nicht über meine Antwort ...
Wir würden uns freuen, wenn wir mit unserer
Zeitschrift zur Berichterstattung beitragen könnten ...
... nun die
können Sie gerne über die Botschaft bekommen. Es ist übrigens unklar, in
welcher Eigenschaft Herr Lammers mir geschrieben hat.
Im Bundestag sind mindestens 40 % Abgeordnete, die unsere Position stützen, die
mit uns der Meinung sind, dass es gefährlich ist, diese Spannungen anzuheizen.
Das denken mindestens 300 Abgeordnete. Das haben mir Frau Schwall-Düren,
Herr Steinmeier, Frau Künast und viele andere
schriftlich bestätigt.
Aber auch Frau Künast
hat noch vor kurzem im Fernsehen von dem „Unrecht der Vertreibung“ gesprochen.
Wenn das so
ist, dann muss man das etwas anders sehen. Bis auf ein paar Psychopathen haben
die Deutschen ja die Realität der NS-Verbrechen anerkannt. Aber nur wenige
Deutsche wissen, dass bereits im September und Oktober 1939 deutsches Militär
und deutsche Polizei über zehntausend polnische Katholiken, darunter viele
Ordensleute, Priester und Bischöfe ermordet haben, zum Teil in Dachau, zum Teil
in Buchenwald und in Ravensbrück. Und nur wenige wissen, dass bereits in diesen
ersten Kriegsmonaten 120.000 Bewohner von Gdynia und
Umgebung binnen 15 Minuten aus ihren Arbeitsstätten und Häusern verjagt wurden
und nur ein Stück Gepäck mitnehmen konnten, und an ihrer Stelle zogen die
Deutschen ein, darunter viele Angehörige der Wehrmacht und SS. Und wir haben
wirklich im allgemeinen nichts gegen ehemalige
Wehrmachtssoldaten, aber wie diese Familie* redet, ist eine Provokation. Das
ist ein Symbol für uns. Sehen Sie, ich habe Frau Merkel am 11. Dezember (2007)
bei Tisch gesagt - ohne Widerspruch, niemand in Europa ist derselben Meinung,
wann eigentlich genau der Zweite Weltkrieg angefangen hat: Für die Polen, für
die Deutschen, für die europäischen Juden am 1. September 1939; für die
Engländer und die Franzosen am 3. September; für die Dänen und die Norweger im
April 1940; für die Belgier, Holländer oder Luxemburger im Mai 1940; für die
Russen am 22. Juni 1941; für die Amerikaner und Japaner im September 1941 und
für Frau Steinbach? Im Frühling 1945! Da hat sie gelacht. Frau Merkel weiß
genau Bescheid. Warum also dies alles? Sehen Sie, ich habe in meinem Leben 16
Bücher geschrieben, 15 über den Zweiten Weltkrieg, über die Grausamkeiten und
die Verbrechen. Aber ich habe mich als der selbe
Mensch für die Versöhnung engagiert. Aber Versöhnung auf der Basis „Wir haben
was Schlimmes getan, Ihr habt was Schlimmes getan“ ist doch nicht wahr! Da wird doch ein Kaninchen und ein Pferd in die gleiche Pastete
gemischt. Holocaust und Genozid lässt sich doch nicht mit dem Schicksal der
Deutschen vergleichen. Auch nicht mit den Auswüchsen gegen einzelne Menschen!
Sicher ist es ein Verstoß gegen jedes menschliche Recht - und als Christ sage
ich auch gegen göttliches Recht, unschuldige Menschen zu töten, kleine Kinder,
alte Leute. Wo immer jemand unschuldig getötet wurde, war das in jedem Falle
ein Mord und gehört auch als solcher bezeichnet. Aber prinzipiell bestand doch
in der Entscheidung, die Leute auszusiedeln, keine Mordabsicht. 1945, 46, 47
habe ich im Gefängnis gesessen, war politisch verfolgt von der polnischen Stasi
und der Sowjetunion. Und daher hatte ich auch persönlich mit allen diesen
Dingen nichts zu tun. Im Gegenteil, im Gefängnis haben wir geträumt, wie gerne
wir mit diesen Menschen getauscht hätten, die einfach so heraus konnten, in die
amerikanische und britische Zone ‚zwangsweise' umgesiedelt wurden! Wie gerne wären
wir ‚zwangsweise' an die Amerikaner oder an die Briten ausgeliefert worden!
Sollten wir da Mitleid mit diesen Menschen haben? Sicher, momentan geht es
ihnen schlecht, aber nach ein paar Tagen ... Gott gebe uns! Wenn es möglich
gewesen wäre, hätten damals 10 Millionen Polen das Land verlassen.
Wäre es überhaupt denkbar gewesen, mit einer
großen deutschen Minderheit im Lande einen polnischen Staat wieder aufzubauen?
Ich weiß es
nicht. Da müssen Sie meinen verstorbenen Freund Stanisław Lem fragen. Er war Futurologe. Ich weiß es nicht. Nach all
den Erfahrungen mit den Spitzeldiensten und der Tätigkeit in der Hilfspolizei,
die Angehörige der deutschen Minderheit für die Nazis geleistet haben - ich
weiß es nicht. Das ist vielleicht eine juristische Frage, aber ich bin
Historiker und Politologe. Da kann ich auf solche Spekulationen nicht
antworten. Aber ich kann Ihnen eine andere Frage stellen, die ich vor etwa zwei
Jahren in Anwesenheit von Herrn von Weizsäcker in Berlin gestellt habe,
nämlich: Wenn so ein Feldwebel aus Deutschland während des Krieges nicht im
Korridor, sondern zum Beispiel in Norwegen stationiert worden wäre, würden er
und seine Familie heute in Deutschland als Heimatvertrieben bezeichnet werden?
Wenn ein polnischer Bürger aus den
ehemaligen deutschen Ostgebieten heute als sogenannter
Spätaussiedler nach Deutschland kommt, erhält er nicht allein einen deutschen
Personalausweis, sondern auch einen neuen Namen für seinen Geburtsort
eingetragen. Der Geburtsort einer jungen Frau, die elfjährig 1992 - nach dem
Nachbarschaftsvertrag - aus einem Vorort von Opole
mit ihren Eltern übergesiedelt ist, wurde z.B. als „Klosterbrück“
eingetragen. So hieß das Dorf Czarnowąsy aber
nur von 1936 bis 1945.
Wir
tolerieren keine Nazi-Namen.
Aber das haben die deutschen Behörden nach
der Vereinigung und nach dem Vertrag von 1991 so getan. Solche Fälle sind nicht
selten.
Ich kann das
nicht juristisch beurteilen. Aber ich will Ihnen etwas sagen: Mein Freund
Stanisław Lem wurde in Lemberg geboren; und was
haben die polnischen Behörden in seinen Pass geschrieben? L'wow,
Sowjetunion. Der ist 1921 geboren, in L'wow, in der
Sowjetunion!
Das ist ja surreal!
Solche
paradoxen Situationen kenne ich übrigens nicht nur aus Polen oder aus
Deutschland, sondern auch aus anderen Ländern. Das hat schon Orwell'sche Züge.
Wenn wir so hartnäckig nach dem „Unrecht“
der Vertreibung fragen, so vor allem, weil wir eine Tendenz in der deutschen
Politik beobachten, alles was mit dem verlorenen Krieg und seinen Auswirkungen
zusammenhängt, als das „Unrecht“ zu betrachten, das den Deutschen „widerfahren“
ist, und die Geschichte unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Am Ende sind
die Völker, die wir zunächst überfallen haben, schuldig an dem Unrecht, das sie
an uns begangen haben.
Ja ich
verstehe, nehmen wir einmal als Arbeitshypothese an, dass wir auf diese
Argumentation eingehen. Dann fangen wir mit der Unterstützung von Berlin,
London und Paris Streit mit der Ukraine, Russland, Litauen und Belarus an.
Natürlich, der polnische Staat existierte doch bis 1772 nicht auf Grundlage von
Eroberungen, er war eine Union, durch Heirat und Diplomatie zusammengefügt, und
umfasste eine Million Quadratkilometer, und Tschernobyl lag in Polen. Das haben
wir alles durch die Aggression unserer Nachbarn verloren. Sollen wir uns also
jetzt über das Schicksal unserer unschuldigen Vorväter im 18. Jahrhundert
beklagen? Die Folge war, dass mehrere polnische Generationen ihrer Nation
entfremdet aufwuchsen und so weiter. Also, was soll das Ganze? Wir haben doch
keine Eroberungskriege geführt! Wir haben 1920 Europa gegen die Aggression von
Lenin und Trotzki an der Weichsel verteidigt. Wir haben uns damals selbst
verteidigt, und wir haben verhindert, dass die Sowjetunion bis zum Atlantik
vordringt. Denn das wäre vielleicht sonst möglich gewesen. Und danach waren die
polnischen Grenzen ab 1923 anerkannt, selbst Hitler hat 1934 die polnischen
Grenzen anerkannt. Und jetzt sollen wir bezahlen, weil sich die Deutschen wegen
der Folgen des Krieges, den sie selbst angefangen haben, betroffen fühlen? Das
ist doch absurd. Sehen Sie, jeder Pole, der in Wilno
oder in Lemberg geboren ist, sehnt sich nach seiner Heimat. Aber wir haben
keine Heimatvertriebenen, wir haben keine Landsmannschaften, so etwas gibt es
in Polen nicht. Wir haben keine Entschädigungsansprüche. Wir engagieren uns im
Osten für kulturelle Beziehungen, wir fördern die Aktivitäten von
Kirchengemeinden und engagieren uns in humanitären Projekten.
Herr Professor Bartoszewski,
wir danken für dieses Gespräch!
* Die
Familie der Vorsitzenden des Bundes der „Vertriebenen“ stammt eigentlich aus
Hessen bzw. Bremen. Erika Steinbach wurde 1943 in Rumia
(Rahmel) bei Gdynia
geboren, wo ihr Vater als Feldwebel der Luftwaffe stationiert war. Ihre Mutter
war erst kurz vorher nach Luftangriffen auf Bremen dorthin verzogen. Im
Frühjahr 1945 flüchtete ihre Mutter mit 2 Kindern vor der anrückenden Roten
Armee nach Schleswig-Holstein.