Über Polen und Deutschland, Unrecht und Versöhnung

 

Gespräch mit Prof. Christoph Koch, Dr. Klaus Göttner und Dr. Friedrich Leidinger

 

Puw: Herr Prof. Bartoszewski, im November 2006 sah der damals frisch in Berlin eingetroffene polnische Botschafter Dr. Marek Prawda die deutsch-polnischen Beziehungen in einer „Vertrauenskrise“. Inzwischen fanden in Polen Sejmwahlen und in ihrer Folge ein Regierungswechsel statt. Beides wurde von der deutschen Politik mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit und großen Erwartungen verfolgt. Sie sind seit November 2007 außenpolitischer Berater der Regierung Tusk. Wie beurteilen Sie heute den Zustand der Beziehungen?

Prof. Bartoszewski: Das Amt, das ich jetzt bekleide, heißt „Beauftragter des Premierministers für Internationalen Dialog“, das heißt in der Praxis Dialog mit Deutschland, mit Israel und mit Juden in der Diaspora. Diese denkwürdige Aufgabenbeschreibung hat nicht allein Bezug zu den historischen Ereignissen in Europa, sondern auch - was eigentlich nicht sein sollte - zur Person des Beauftragten. Ich bin Ehrenbürger des Staates Israel, wenngleich ich bekanntlich polnischer Katholik aus einer - wie man einmal gesagt hat - „rein arischen“ Familie bin, und für viele Juden in der Welt vertrauenswürdig. Und Vertrauen ist nun einmal überall in der Welt die Voraussetzung, wenn man miteinander in Beziehung treten und etwas erreichen will. Und Vertrauen besteht nicht immer zwischen stark betroffenen Juden in Israel und sonst wo in der Welt oder in Mittel- und Osteuropa und den anderen, den Nicht-Juden, egal zu welcher Generation sie gehören. Das Verhältnis ist leider bis heute nicht ganz normal, sondern immer noch belastet. Ein ehemaliger israelischer Botschafter in Polen hat mir einmal gesagt: „Weißt Du, die Beziehungen der Juden zu Deutschen und die Beziehungen der Juden zu Polen werden - wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen - nie normal sein. Sie werden vielleicht besser als ‚normal' oder schlechter als ‚normal' sein, aber niemals so wie die Beziehungen zu Südafrika oder Portugal. Für diese Beziehungen gilt eine andere ‚Normalität'.“ Das ist das historische Erbe, an dem wir tragen, vielleicht ein schmerzliches Erbe, aber auch ein großes Versprechen, denn es gibt uns auch die Chance zur Reflexion. Und wenn man darüber reflektiert, dann eröffnen sich ganz neue Haltungen und Einstellungen und entsteht auch neues Interesse.

Jedenfalls hat man mich ernannt und nun bin ich seit einem Jahr und 4 Monaten im Amt; das ist wenig Zeit, aber wenn man schon vorher konkrete Kommunikationskanäle und Gesprächspartner gehabt hat, dann reicht das, um ein neues Netzwerk des Vertrauens entstehen zu lassen. Und der Premierminister Donald Tusk hat als Angehöriger einer kleinen Volksgruppe in Polen - das sind die Kaschuben - vielleicht auch ganz persönlich mehr Sensibilität für die Situation einer Minderheit.

Und was bedeutet das für die deutsch-polnischen Beziehungen?

Wir haben direkt am Anfang ein Signal gesetzt, das auch positiv aufgenommen wurde. Wenige Tage nach seiner Vereidigung war der neue Premier mit mir, dem neuen Beauftragten am 11. Dezember 2007 in Berlin bei der Bundeskanzlerin und beim Bundespräsidenten, und ich habe ihn dabei begleitet. Das war nicht der erste Staatsbesuch, denn vier Tage vorher waren wir beim Papst, und der ist auch ein Deutscher, ein Bayer, den Besuch habe ich auch vermittelt, aber ich bin ja auch ein bayrischer Professor.

Bis vor kurzem, bis Februar waren wir eigentlich der Meinung, es gibt keine besonderen Probleme. Natürlich gibt es da große Probleme, die kein Mensch so vorhersehen konnte - die Bankenkrise, die Wirtschaftskrise - und die betreffen uns mittelbar, denn anders als Deutschland hat Polen wirtschaftlich und finanziell kaum etwas mit Amerika zu tun, aber wir sind von Deutschland abhängig, und wenn es in Deutschland Probleme wirtschaftlicher Art gibt, dann hat das auch Folgen für uns. Sehen Sie nur einmal zum Beispiel das Versicherungswesen in Polen, das ist in der Hand zweier deutscher Unternehmen. Auch bei den Banken gibt es zahlreiche Verbindungen und Abhängigkeiten. Auch ich führe mein Konto bei der Raiffeisenbank.

Und in dieser Krise spüren wir natürlich auch spezifische Probleme wischen uns. Nehmen Sie den Arbeitsmarkt. Der Arbeitsmarkt sollte eigentlich seit Mai dieses Jahres offen sein . Und nun wird das entgegen der ursprünglichen Planung der Europäischen Kommission wieder verschoben. Kein deutscher Bundeskanzler kann sich das erlauben, in Zeiten der Krise zusätzliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zuzulassen. Irgendwo kann man das auch verstehen, aber im Alltag sieht das so aus, als würden die Deutschen ihre Zusagen nicht einhalten. Es sind gewisse Signale Einzelner - das sage ich mit Betonung, die man in Polen bei einfachen Menschen nicht positiv bewertet. Dagegen stehen viele positive Erfahrungen gerade auch der einfachen Menschen im Bereich privater Kontakte, kleiner Geschäfte und Dienstleistungen. Gerade zwischen den Bundesländern und Wojewodschaften auf beiden Seiten der Grenze gibt es wunderbare Kooperation, auch in einem „grauen Bereich“, und die Ministerpräsidenten und die Wojewoden wissen davon, ich habe mit denen gesprochen. Natürlich muss man das im Auge behalten und darf nicht zulassen, dass es zu organisierter Kriminalität und Steuervergehen kommt.

Und wie bewerten Sie das, wenn die deutsche Politik durch ihre Weigerung, den Arbeitsmarkt für Polen zu öffnen, die Vorstellung nährt, die polnischen Migranten nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg?

Sehen Sie, die Wirtschaftsleute in der Union sehen das anders, als die Wähler. Das ist doch nicht nur in Deutschland ein Problem. Natürlich gibt es hier die NPD, aber in Polen haben wir auch solche Leute. Die wollen am liebsten alles zurückdrehen. Die sagen dann: Ja, die Deutschen haben uns da über den Tisch gezogen. Jetzt sind uns die Hände gebunden und wir sind völlig abhängig. Und leider gibt es dann Menschen in vielen Ländern, die auf populistische Parolen hereinfallen. Da gibt es sogar wirtschaftlich und intellektuell gebildete Menschen darunter, die sich politisch völlig idiotisch verhalten.

Aber reden wir nicht allein über Wirtschaft. Wirtschaft spielt sicher eine große Rolle, aber bei den Polen gibt es da Ressentiments und Ängste, und die sind noch nicht verschwunden, und werden auch nicht in den nächsten 15 bis 20 Jahren verschwinden, denn - bitte, vergessen wir nicht - jede Belebung des - so nenne ich das - revisionistischen Business beunruhigt die Leute. Man behauptet, in Deutschland sagen die jungen Leute jetzt, wir haben auch ein Recht auf die historische Wahrheit. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich in der Zeit, als ich in Deutschland gelebt habe, eine elfbändige Dokumentation über „Flucht und Vertreibung“ gekauft. Elf Bände! Das konnte man damals problemlos erwerben. Übrigens habe ich das im Versandbuchhandel gekauft, weil niemand das in den Buchläden kaufte. Also, es ist nicht wahr, wenn jetzt behauptet wird, das sei tabuisiert gewesen, man habe nicht darüber sprechen und nichts darüber erfahren können. Alle Informationen waren verfügbar! Seit den fünfziger Jahren! Nur hatte die Gesellschaft in Deutschland damals vielleicht andere Probleme.

Bei Ihrem Besuch im Dezember 2007 sind Sie doch bestimmt von Frau Merkel auf das „Zentrum gegen Vertreibungen“ angesprochen worden, und ein paar Tage später konnte man von Herrn Kulturstaatssekretär Neumann hören, Polen habe seinen Widerstand gegen das „Zentrum“ aufgegeben.

Das ist nicht ganz richtig. Herr Neumann hat uns in Warschau besucht und wir haben vereinbart, dass aus dem Zentrum alle „Germanophoben“ und „Polonophoben“ Menschen herausgehalten werden. Man muss doch nicht Versöhnung mit Menschen machen, die sich prinzipiell dagegen aussprechen und die gar kein Interesse daran haben. Das haben wir am 15. Februar 2008 in Warschau schriftlich fixiert und gemeinsam unterzeichnet. Und von der polnischen Seite haben wir uns bis zum letzten Punkt daran gehalten. Wir haben in allen Bereichen, auf denen die Zusammenarbeit ins Stocken geraten waren, auf unserer Seite die Hindernisse beseitigt und Fördermittel bereit gestellt, nehmen Sie nur das Deutsch-Polnische Jugendwerk.

Und dann hatte man uns damals gesagt, dass die deutsche Regierung - keine Non-Government Organisation - ein Museum machen will, und dass die Koalition beschlossen hat, eine Expertenkommission von Historikern und Museumsleuten einzuberufen, die soll vielleicht mit internationaler Beteiligung ein Konzept entwickeln. Und da haben wir gesagt, macht, was Ihr wollt, aber passt auf, was Ihr macht! Wir werden das genau beobachten und uns melden, sofern etwas schief läuft, und im Übrigen werden wir schweigen. Und dann haben wir in der Tat ein Jahr zugeguckt und geschwiegen. Natürlich können wir die populistische Presse nicht zügeln und auch unserem Präsidenten keinen Maulkorb umhängen. Aber wir haben geschwiegen. Ein Jahr lang war es still um das Zentrum und das Kuratorium. Und plötzlich lesen wir in der Zeitung, dass die Bundesregierung an verschiedene Organisationen herangetreten ist, sie sollten bitteschön Vertreter entsenden, und schon erfahren wir, dass da eine Initiative bereits ihre Kandidatin nominiert hat, die steht schon fest! Und wir lesen, dass die Bundesregierung die Entscheidung über die Berufung in diese Kommission dieser Initiative überlassen will. Und Experten, das sind hier doch Historiker und Museumsleute und keine Biologen! Das haben wir in keiner polnischen Zeitung gelesen, sondern im SPIEGEL. Und dann begann eine Kampagne, wo eine Dame gegen eine andere Dame aus derselben Partei ausgespielt wurde.

Glauben Sie denn, dass die Bundesregierung und der Bundestag in Bezug auf das „Zentrum“ ein wissenschaftliches Anliegen haben? Ist es nicht vielmehr so, dass sie ein politisches Interesse verfolgen? Die Bundeskanzlerin hat vor drei Tagen beim Empfang des Bundes der Vertriebenen in Bezug auf das „sichtbare Zeichen“ erklärt: „Unrecht muss als Unrecht benannt werden“. Gleichzeitig ruft sie dazu auf, den „schwierigen Weg der Versöhnung zu gehen“. Wie passt das zusammen? War die zwangsweise Aussiedlung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ‚Unrecht'? Fast alle Politiker in Deutschland sind sich mit Frau Merkel darin einig, dass die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten ‚Unrecht' war.

Ja da sollen sie doch verhandeln, mit Großbritannien, USA und Russland, nicht mit uns!

Aber wie sehen Sie das? War die Vertreibung völkerrechtlich Unrecht?

Ich bin kein Jurist. Nach meiner Kenntnis war das alles vor der Gründung der UNO, vor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und war der Nürnberger Prozess vielleicht Unrecht? Viele deutsche Juristen waren über Jahre dieser Ansicht. Selbst heute noch kann man bisweilen solche Stimmen vernehmen. Nach unserer Meinung waren diese 12 Prozesse kein Unrecht. Es ist zwar richtig, dass die Normen, nach denen geurteilt wurde, von anderen nachträglich formuliert wurden, aber das war kein Unrecht. Das war eine einmalige Situation. Und bedenken Sie, welch enger Zusammenhang zu den einzigartigen Verbrechen besteht, die von Deutschland zu verantworten waren. Sie können das alles doch nicht davon trennen.

Und jetzt zeigt man in Deutschland Unverständnis für Ihre Kritik an Frau Steinbach?

Ich persönlich engagiere mich seit über 50 Jahren ununterbrochen für die deutsch-polnische Versöhnung. Das habe ich damals schon mit dem Krakauer Erzbischof Karol Woytyła gemeinsam in der Redaktion von „Tygodnik Powszechny“ angefangen. Und Sie können sicher sein, dass ich in diesen Jahren nicht nur Unterstützung und Zuspruch gefunden habe. Ich kann das inzwischen alles ertragen. Ich habe das nicht getan, um nur Beifall zu hören, nie. Aber hier wird doch eine ganz falsche Perspektive eingenommen. Das ist doch nicht das Problem einer Person, die haben wir doch nicht erfunden! Ich habe in meiner Antwort auf den offenen Brief des Bundestagspräsidenten Lammers, über den die ganze Presse in Deutschland berichtet hat, nur nicht über meine Antwort ...

Wir würden uns freuen, wenn wir mit unserer Zeitschrift zur Berichterstattung beitragen könnten ...

... nun die können Sie gerne über die Botschaft bekommen. Es ist übrigens unklar, in welcher Eigenschaft Herr Lammers mir geschrieben hat. Im Bundestag sind mindestens 40 % Abgeordnete, die unsere Position stützen, die mit uns der Meinung sind, dass es gefährlich ist, diese Spannungen anzuheizen. Das denken mindestens 300 Abgeordnete. Das haben mir Frau Schwall-Düren, Herr Steinmeier, Frau Künast und viele andere schriftlich bestätigt.

Aber auch Frau Künast hat noch vor kurzem im Fernsehen von dem „Unrecht der Vertreibung“ gesprochen.

Wenn das so ist, dann muss man das etwas anders sehen. Bis auf ein paar Psychopathen haben die Deutschen ja die Realität der NS-Verbrechen anerkannt. Aber nur wenige Deutsche wissen, dass bereits im September und Oktober 1939 deutsches Militär und deutsche Polizei über zehntausend polnische Katholiken, darunter viele Ordensleute, Priester und Bischöfe ermordet haben, zum Teil in Dachau, zum Teil in Buchenwald und in Ravensbrück. Und nur wenige wissen, dass bereits in diesen ersten Kriegsmonaten 120.000 Bewohner von Gdynia und Umgebung binnen 15 Minuten aus ihren Arbeitsstätten und Häusern verjagt wurden und nur ein Stück Gepäck mitnehmen konnten, und an ihrer Stelle zogen die Deutschen ein, darunter viele Angehörige der Wehrmacht und SS. Und wir haben wirklich im allgemeinen nichts gegen ehemalige Wehrmachtssoldaten, aber wie diese Familie* redet, ist eine Provokation. Das ist ein Symbol für uns. Sehen Sie, ich habe Frau Merkel am 11. Dezember (2007) bei Tisch gesagt - ohne Widerspruch, niemand in Europa ist derselben Meinung, wann eigentlich genau der Zweite Weltkrieg angefangen hat: Für die Polen, für die Deutschen, für die europäischen Juden am 1. September 1939; für die Engländer und die Franzosen am 3. September; für die Dänen und die Norweger im April 1940; für die Belgier, Holländer oder Luxemburger im Mai 1940; für die Russen am 22. Juni 1941; für die Amerikaner und Japaner im September 1941 und für Frau Steinbach? Im Frühling 1945! Da hat sie gelacht. Frau Merkel weiß genau Bescheid. Warum also dies alles? Sehen Sie, ich habe in meinem Leben 16 Bücher geschrieben, 15 über den Zweiten Weltkrieg, über die Grausamkeiten und die Verbrechen. Aber ich habe mich als der selbe Mensch für die Versöhnung engagiert. Aber Versöhnung auf der Basis „Wir haben was Schlimmes getan, Ihr habt was Schlimmes getan“ ist doch nicht wahr! Da wird doch ein Kaninchen und ein Pferd in die gleiche Pastete gemischt. Holocaust und Genozid lässt sich doch nicht mit dem Schicksal der Deutschen vergleichen. Auch nicht mit den Auswüchsen gegen einzelne Menschen! Sicher ist es ein Verstoß gegen jedes menschliche Recht - und als Christ sage ich auch gegen göttliches Recht, unschuldige Menschen zu töten, kleine Kinder, alte Leute. Wo immer jemand unschuldig getötet wurde, war das in jedem Falle ein Mord und gehört auch als solcher bezeichnet. Aber prinzipiell bestand doch in der Entscheidung, die Leute auszusiedeln, keine Mordabsicht. 1945, 46, 47 habe ich im Gefängnis gesessen, war politisch verfolgt von der polnischen Stasi und der Sowjetunion. Und daher hatte ich auch persönlich mit allen diesen Dingen nichts zu tun. Im Gegenteil, im Gefängnis haben wir geträumt, wie gerne wir mit diesen Menschen getauscht hätten, die einfach so heraus konnten, in die amerikanische und britische Zone ‚zwangsweise' umgesiedelt wurden! Wie gerne wären wir ‚zwangsweise' an die Amerikaner oder an die Briten ausgeliefert worden! Sollten wir da Mitleid mit diesen Menschen haben? Sicher, momentan geht es ihnen schlecht, aber nach ein paar Tagen ... Gott gebe uns! Wenn es möglich gewesen wäre, hätten damals 10 Millionen Polen das Land verlassen.

Wäre es überhaupt denkbar gewesen, mit einer großen deutschen Minderheit im Lande einen polnischen Staat wieder aufzubauen?

Ich weiß es nicht. Da müssen Sie meinen verstorbenen Freund Stanisław Lem fragen. Er war Futurologe. Ich weiß es nicht. Nach all den Erfahrungen mit den Spitzeldiensten und der Tätigkeit in der Hilfspolizei, die Angehörige der deutschen Minderheit für die Nazis geleistet haben - ich weiß es nicht. Das ist vielleicht eine juristische Frage, aber ich bin Historiker und Politologe. Da kann ich auf solche Spekulationen nicht antworten. Aber ich kann Ihnen eine andere Frage stellen, die ich vor etwa zwei Jahren in Anwesenheit von Herrn von Weizsäcker in Berlin gestellt habe, nämlich: Wenn so ein Feldwebel aus Deutschland während des Krieges nicht im Korridor, sondern zum Beispiel in Norwegen stationiert worden wäre, würden er und seine Familie heute in Deutschland als Heimatvertrieben bezeichnet werden?

Wenn ein polnischer Bürger aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten heute als sogenannter Spätaussiedler nach Deutschland kommt, erhält er nicht allein einen deutschen Personalausweis, sondern auch einen neuen Namen für seinen Geburtsort eingetragen. Der Geburtsort einer jungen Frau, die elfjährig 1992 - nach dem Nachbarschaftsvertrag - aus einem Vorort von Opole mit ihren Eltern übergesiedelt ist, wurde z.B. als „Klosterbrück“ eingetragen. So hieß das Dorf Czarnowąsy aber nur von 1936 bis 1945.

Wir tolerieren keine Nazi-Namen.

Aber das haben die deutschen Behörden nach der Vereinigung und nach dem Vertrag von 1991 so getan. Solche Fälle sind nicht selten.

Ich kann das nicht juristisch beurteilen. Aber ich will Ihnen etwas sagen: Mein Freund Stanisław Lem wurde in Lemberg geboren; und was haben die polnischen Behörden in seinen Pass geschrieben? L'wow, Sowjetunion. Der ist 1921 geboren, in L'wow, in der Sowjetunion!

Das ist ja surreal!

Solche paradoxen Situationen kenne ich übrigens nicht nur aus Polen oder aus Deutschland, sondern auch aus anderen Ländern. Das hat schon Orwell'sche Züge.

Wenn wir so hartnäckig nach dem „Unrecht“ der Vertreibung fragen, so vor allem, weil wir eine Tendenz in der deutschen Politik beobachten, alles was mit dem verlorenen Krieg und seinen Auswirkungen zusammenhängt, als das „Unrecht“ zu betrachten, das den Deutschen „widerfahren“ ist, und die Geschichte unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. Am Ende sind die Völker, die wir zunächst überfallen haben, schuldig an dem Unrecht, das sie an uns begangen haben.

Ja ich verstehe, nehmen wir einmal als Arbeitshypothese an, dass wir auf diese Argumentation eingehen. Dann fangen wir mit der Unterstützung von Berlin, London und Paris Streit mit der Ukraine, Russland, Litauen und Belarus an. Natürlich, der polnische Staat existierte doch bis 1772 nicht auf Grundlage von Eroberungen, er war eine Union, durch Heirat und Diplomatie zusammengefügt, und umfasste eine Million Quadratkilometer, und Tschernobyl lag in Polen. Das haben wir alles durch die Aggression unserer Nachbarn verloren. Sollen wir uns also jetzt über das Schicksal unserer unschuldigen Vorväter im 18. Jahrhundert beklagen? Die Folge war, dass mehrere polnische Generationen ihrer Nation entfremdet aufwuchsen und so weiter. Also, was soll das Ganze? Wir haben doch keine Eroberungskriege geführt! Wir haben 1920 Europa gegen die Aggression von Lenin und Trotzki an der Weichsel verteidigt. Wir haben uns damals selbst verteidigt, und wir haben verhindert, dass die Sowjetunion bis zum Atlantik vordringt. Denn das wäre vielleicht sonst möglich gewesen. Und danach waren die polnischen Grenzen ab 1923 anerkannt, selbst Hitler hat 1934 die polnischen Grenzen anerkannt. Und jetzt sollen wir bezahlen, weil sich die Deutschen wegen der Folgen des Krieges, den sie selbst angefangen haben, betroffen fühlen? Das ist doch absurd. Sehen Sie, jeder Pole, der in Wilno oder in Lemberg geboren ist, sehnt sich nach seiner Heimat. Aber wir haben keine Heimatvertriebenen, wir haben keine Landsmannschaften, so etwas gibt es in Polen nicht. Wir haben keine Entschädigungsansprüche. Wir engagieren uns im Osten für kulturelle Beziehungen, wir fördern die Aktivitäten von Kirchengemeinden und engagieren uns in humanitären Projekten.

Herr Professor Bartoszewski, wir danken für dieses Gespräch!

* Die Familie der Vorsitzenden des Bundes der „Vertriebenen“ stammt eigentlich aus Hessen bzw. Bremen. Erika Steinbach wurde 1943 in Rumia (Rahmel) bei Gdynia geboren, wo ihr Vater als Feldwebel der Luftwaffe stationiert war. Ihre Mutter war erst kurz vorher nach Luftangriffen auf Bremen dorthin verzogen. Im Frühjahr 1945 flüchtete ihre Mutter mit 2 Kindern vor der anrückenden Roten Armee nach Schleswig-Holstein.