05.03.2009
Offener
Brief an
Herrn
Minister a.D. Prof. Władysław Bartoszewski, Beauftragter der
Polnischen
Regierung für die polnisch-deutschen Beziehungen
Verehrter, lieber Herr Bartoszewski,
mit dem
gebotenen Respekt vor Ihrer Biographie und Ihrer eindrucksvollen Lebensleistung
und zugleich mit zunehmendem Unverständnis für Ihre jüngsten mehrfachen
öffentlichen Erklärungen zur Besetzung des Stiftungsrates der Bundesstiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ wende ich mich nun auch öffentlich an Sie mit
dem herzlichen Wunsch, unser gemeinsames Interesse an freundschaftlichen
Beziehungen zwischen Deutschland und Polen auch und gerade bei Meinungsverschiedenheiten
in der Wortwahl und Tonlage deutlich werden zu lassen.
Selbstverständlich
ist es Ihr gutes Recht, Frau Steinbach die Eignung als Repräsentantin deutscher
Vertriebener in dem vom Deutschen Bundestag dafür vorgesehenen Stiftungsrat
abzusprechen, auch wenn das Bild dieser engagierten Frau in der polnischen
Öffentlichkeit zum Teil durch eine unvollständige, manchmal irreführende oder
grob dämonisierende Berichterstattung entstanden ist, an der sich zu meinem
großen Bedauern auch politische Repräsentanten in beiden Ländern beteiligt
haben. Eine „blonde Bestie“ ist sie ganz sicher nicht.
Ich kenne
Frau Steinbach aus langjähriger Zusammenarbeit in der Bundestagsfraktion, teile
keineswegs alle ihre Positionen, habe im Unterschied zu ihr sowohl dem
deutsch-polnischen Grenzvertrag zugestimmt als auch den Beitritt Polens zur
NATO wie zur EU nachdrücklich unterstützt, dem auch Frau Steinbach entgegen anderslautender Behauptungen im Deutschen Bundestag
zugestimmt hat. Ich schätze ihr ernsthaftes und glaubwürdiges Engagement für Erinnerung
und Versöhnung auch und gerade im deutsch-polnischen Verhältnis. Keiner ihrer
Vorgänger im Amt des Vorsitzenden des Bundesverbandes der Vertriebenen hat
hartnäckiger und erfolgreicher gegen Geschichtsverkürzungen und falsche
Ansprüche gestritten als Erika Steinbach. Ihre Entscheidung, einstweilen auf
die bereits erfolgte Nominierung für den Stiftungsrat im Interesse der Sache zu
verzichten, belegt einmal mehr, dass ihre Haltung und ihr Verhalten souveräner ist als die mancher ihrer Kritiker.
Es versteht
sich von selbst, dass Sie diese Einschätzung nicht teilen müssen und dezidiert
andere Auffassungen auch öffentlich vertreten können. Aber darf unter
Demokraten ein doch hoffentlich konstruktiver Streit soweit gehen, dass man
Andersdenkende allesamt als „Narren“ bezeichnet, wie Sie es getan haben,
verbunden mit dem ausdrücklichen Hinweis, „wenn jemand sich blöd stellt, hilft
auch nichts mehr“? Der Präsident des Deutschen Bundestages, prominente
Abgeordnete, Ministerpräsidenten, der Generalsekretär der Christlich
Demokratischen Union, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz: allesamt
„Narren“?
Verehrter,
lieber Herr Bartoszewski, Ihr persönliches Schicksal
und Ihr darauf gegründetes politisches Engagement haben meine große
Bewunderung, insbesondere seit Ihrer bemerkenswerten Rede im Deutschen
Bundestag 1995, mit der Sie in denkwürdiger Weise das Leid der Deutschen
gewürdigt haben, die ohne persönliche Schuld Opfer des von Deutschland durch
den Überfall auf Polen begonnenen Zweiten Weltkrieges geworden sind.
In meiner
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Erzwungene Wege - Flucht und Vertreibung im
20. Jahrhundert“ in Berlin habe ich Sie mit Ihrem Beitrag aus Anlass des 70.
Geburtstages von Kardinal Lehmann zitiert: „Polen und Deutsche müssen ihre gegenseitigen
Relationen neu begreifen und definieren (...) Trotz der tragischen
Vergangenheit haben es die Deutschen und die Polen verstanden, eine enorme
psychologische und moralische Wende zu vollziehen. Sie beginnen, im Sinne von
Verständigung und Versöhnung zu leben.“
Mir liegt
sehr daran, dass dies so bleibt - und Ihnen sicherlich auch.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Norbert Lammert,
Präsident des Deutschen Bundestages
Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2009/003.html
Warszawa, den 10. März 2009
Prof. Dr. Norbert Lammert
Präsident des Deutschen Bundestages
Sehr geehrter Herr Präsident,
mit dem
gebührlichen Respekt für den Präsidenten des Deutschen Bundestages, „den Ersten
unter Gleichen, demokratisch gewählten Vertretern der Bürger der Bundesrepublik
Deutschland, aber auch mit Bedauern und Erstaunen, hervorgerufen sowohl durch
den Inhalt Ihres Briefes, als auch die Form dessen Veröffentlichung, wende ich
mich an Sie mit einigen Überlegungen.
Es ist für
mich ein bedauernswerter Umstand, dass Sie es für wichtig gehalten haben,
einigen meiner aus dem Kontext gerissenen, diplomatisch vielleicht nicht immer
ausgewogenen Äußerungen in Radio- und Fernsehinterviews so viel Platz zu
widmen. Es tut mir leid, dass dabei wesentliche und Ihnen doch bekannte
Argumente ausgelassen wurden, die meiner Beteiligung an der Diskussion über
Erika Steinbachs Mitgliedschaft an einem Gremium der Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ zugrunde lagen, die ja vom Bundestag, nicht vom BdV
ins Leben gerufen wurde.
Ich bedanke
mich, Herr Präsident, für den Respekt, den Sie für meine Biografie, geäußert
haben; so hege ich auch keinen Zweifel daran, dass Sie, Herr Präsident, sich
auch dessen bewusst sind, dass ich nach fast 50 Jahren Arbeit an der
Verbesserung der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen mit Beunruhigung
Aktivitäten von Personen beobachte, die ihr politisches Kapital aus
Verfälschung der Geschichte schlagen wollen und sich dabei auf für jeden
Menschen so grundlegende Begriffe, wie die Wahrheit oder Versöhnung berufen.
Ich habe den
Eindruck, dass man in Deutschland nur allzu leicht über die konsequente Abneigung
der Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach gegenüber den Polen vergisst, eine
Abneigung, die seit vielen Jahren in konkrete Taten umgesetzt wird.
Erika
Steinbachs Aktivitäten und Äußerungen, oft in Bezug auf schwierige und delikate
Angelegenheiten zwischen unseren Staaten und Völkern, sind in Polen mehrmals
auf Widerspruch gestoßen und haben der Atmosphäre der Zusammenarbeit geschadet.
Seit der Regierungszeit meines Freundes Helmut Kohl sind gegenseitiges
Verständnis und Vertrauen Grundlagen der Beziehungen zwischen Polen und der
Bundesrepublik Deutschland. In der neuesten Geschichte unserer Relationen, das
heißt seit 1989 (Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl in Warschau und das
Treffen in Kreisau im November 1989), haben wir bei
den für Europa wichtigen Entscheidungen immer zusammengearbeitet. Der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ (12. September 1990), der
deutsch-polnische Grenzvertrag (14. November 1990) und der Vertrag über gute
Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit (17. Juni 1991) stellten die Grundlagen
der deutsch-polnischen Partnerschaft in Europa dar. Indem Frau Steinbach gegen
die fundamentale Bedeutung des Vertrages gestimmt hat, hat sie versucht, diese
Grundlagen auszuhebeln.
Die
Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland bei unseren Bestrebungen, Mitglied
der Europäischen Union und der NATO zu werden, war für Polen wichtig. Es war
ein Beweis des Verständnisses für die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen
Warschau und Berlin in für uns wesentlichen Angelegenheiten, d. h. der europäischen
Politik und der transatlantischen Sicherheit. Und doch im Jahre 1999, während
der Verhandlungen über unsere Mitgliedschaft in der EU, hat uns Frau Steinbach
mit einem Veto gedroht und von uns verlangt, die Menschenrechte (lies: die Rechte
der deutschen Vertriebenen) einzuhalten, indem sie sagte: „Es bedarf keiner
Kampfflugzeuge. Ein schlichtes „Veto“ zur Aufnahme uneinsichtiger Kandidaten
sollte ausreichen.“ (Süddeutsche Zeitung, 28. August 1999) Herr Präsident, sind
Sie der Meinung, dass diese Aussage der deutsch-polnischen Versöhnung einen
guten Dienst erwiesen hat?
Zweifel am
guten Willen der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen werden von ihren
zahlreichen Äußerungen über Fragen geweckt, die eine symbolische Bedeutung für
die deutsch-polnischen und europäischen Verhältnisse haben. Es sei hier nur an
Erika Steinbachs Vorschlag von 2002 erinnert, dass die Hymne der BRD unter
anderem um die ehemalige erste Strophe der Hymne des Dritten Reiches ergänzt
wird, mit den Worten „Deutschland, Deutschland über alles“; das Argument war,
sie wären nur „Ausdruck von Heimatliebe“ (dpa, 20. September 2002). Die Aussage
dieses Vorschlages für die Polen und für andere Völker, die unter der
barbarischen Politik von Nazideutschland („über alles in der Welt“?) gelitten hatten,
brauche ich Ihnen nicht zu erklären.
Ich kann als
Europäer die falsche Auslegung der Geschichte nicht akzeptieren, wie sie Frau
Steinbach versucht, öffentlich durchzusetzen, dass Polen die Vertreibung der
Deutschen noch lange vor der Potsdamer Konferenz langfristig geplant und
realisiert habe (Welt am Sonntag, 7. März 2009). Es ist eine Äußerung, die der
Rücksicht auf die Ursachen und deren Wirkungen entbehrt, sie ist nichts
anderes, als Verfälschung der Geschichte. Nach dieser Auslegung sei die Barbarei
Hitlers nur ein Vorwand für die Polen gewesen, mit den Deutschen abzurechnen.
Genau so
sehen wir in Polen die Äußerungen über die Zwangsarbeit der Deutschen während
des Zweiten Weltkrieges und direkt danach auf dem Gebiet Mittel- und
Osteuropas. Die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach sagte zum „Tag der
Heimat“ am 6. September 2008: „Mitteleuropa, Osteuropa und Südeuropa waren nach
der Beendigung des Zweiten Weltkrieges über viele Jahre hindurch eine
gigantische Region der Sklaverei.“
Ich bin mit Ihnen
völlig einverstanden, dass die deutsch-polnischen Beziehungen Ausgewogenheit
und Mäßigung bedürfen. Frau Bundestagabgeordnete Steinbach hat aber mehrmals
Ausdruck gebracht, dass sie einen seltsamen Begriff von der Versöhnung zwischen
unseren Völkern hat. Ihre negativen Handlungen machten sich dabei vor allem an
besonders wichtigen und für Polen und Deutschland positiven Momenten bemerkbar.
Frau Steinbach hat natürlich das Recht, ihre Meinungen öffentlich auszudrücken,
man darf und soll es ihr keinesfalls verbieten. Aber Äußerungen zu
deutsch-polnischen Verhältnissen bedürfen einer besonderen Verantwortung.
Ich möchte
Sie daran erinnern, dass gerade in Polen seit vielen Jahren gemeinsame Werke
der polnischen und deutschen Historiker (z. B. H. Lemberg und W. Borodziej) zum Thema Vertreibung der deutschen Bevölkerung
nach 1945 veröffentlicht werden. Dieses Thema wird auch in der polnischen
Öffentlichkeit seit Jahren diskutiert. Schon am 11. November 1983 (sic!) habe
ich in meinem Vortrag vor dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken in Bonn
gesagt, indem ich meinen Freund und den großen polnischen Patrioten, Jan Józef Lipski, zitiert habe: „Wir
haben uns daran beteiligt, Millionen von Menschen ihrer Heimat zu berauben, von
denen manche bestimmt durch ihre Unterstützung für Hitler Schuld auf sich
geladen haben, andere durch ihre passive Zustimmung für Hitlers Verbrechen,
wieder andere nur dadurch, dass sie den Mut nicht aufgebracht haben, gegen die
verheerende Schreckensherrschaft zu kämpfen, während ihr Staat einen Krieg
führte. Das uns angetane Leid, auch wenn es so groß
ist, ist aber keine Entschuldigung für das Leid, das wir selbst angetan haben,
es kann es nicht sein.“ Ich hatte damals gute Beziehungen zu dem deutschen
Katholiken aus Schlesien, Herbert Czaja, unterhalten.
Damals hat man noch nichts von Erika Steinbachs politischem Einsatz für die
ausgesiedelten Deutschen gehört...
Sehr geehrter Herr Präsident,
nur die
Wahrheit kann zu verantwortungsvollen, gesunden und ehrlichen Beziehungen
zwischen unseren Völkern führen. Die Wahrheit muss die Grundlage unserer
Relationen bilden. Sie ist die Voraussetzung eines ehrlichen Dialogs. Ich muss
mit Bedauern feststellen: Die neulichen Ereignisse
haben gezeigt, dass manche Vertreter der Bundesrepublik Deutschland die
gebührliche Distanz und Demut gegenüber der gemeinsamen Geschichte nicht an den
Tag legen.
Ich wünsche
Ihnen jetzt, in dieser für die Katholiken und Protestanten so wichtigen
Fastenzeit, viel Zeit zum Nachdenken. Wir haben nur dann eine Chance, eine
echte Partnerschaft zwischen den Deutschen und den Polen im vereinten und
solidarischen Europa aufzubauen, wenn wir gemäß den universellen Werten denken
und handeln.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Władysław Bartoszweski
PS. Die
Nachlässigkeit mancher Journalisten führte schon früher, und führt immer noch,
zu Missverständnissen in der Politik. Ich habe Frau Steinbach nie als „blonde
Bestie“ bezeichnet, auch wenn ich eine Formulierung aus dem Interview aus „Die
Zeit“ vom Dezember 2007 zitiert habe, an die auch der Titel des Buches von Filip Gańczak „Erika
Steinbach, die Schöne oder die Bestie?“ anknüpft, herausgegeben von Newsweek Polska im Jahre 2008 und auf ein Interview des Verfassers
mit Frau Steinbach gestützt.
Autorisierte
Übersetzung des in der Gazeta Wyborcza
vom 11. März 2009 erschienenen Antwortschreibens des Beauftragten des
polnischen Premiers für internationalen Dialog, Staatssekretär Władysław
Bartoszewski, an Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert. Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
http://www.kas.de/wf/doc/kas_15967-544-1-30.pdf