Tage der Niederlage, Tage des Ruhms

 

Von Krzysztof Pilawski, Warschau

 

Der 1. September 1939 ist das tragischste, zugleich aber auch das heldenhafteste Datum in der Geschichte Polens. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bestimmten die stärkeren Nachbarn, insbesondere Preußen und Russland, über Polens Schicksal. An der Schwelle zum darauf folgenden Jahrhundert vollzogen diese Staaten zusammen mit Österreich die Teilungen Polens. Die Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit verdankte Polen der Niederlage Deutschlands und Österreichs im 1. Weltkrieg und der Revolution in Russland. Der nach 123 Jahren wiedergeborene polnische Staat währte ganze 20 Jahre. Er brach im September 1939 unter den Schlägen Deutschlands und der Sowjetunion zusammen. Entsprechend der Verständigung zwischen Hitler und Stalin teilten Berlin und Moskau Polen auf, wobei an die Sowjetunion sogar das größere Territorium fiel. Hitler und Stalin schwebte das gleiche Ziel vor - die endgültige Beseitigung des polnischen Staates, der „Missgeburt des Versailler Systems“. Der Hitlersche Chauvinismus und Rassismus auf der einen Seite, dazu der großrussische Nationalismus, der mit der Stalinschen Ideologie des Klassenhasses vermischt war, bereiteten den Polen dieses tragische Los. Für viele Deutsche der Hitlerzeit waren die Polen verachtete Untermenschen, für die Sowjetmacht ein „Herrenvolk“, über welches das Urteil der historischen Gerechtigkeit zu fällen ist für die Klassenunterdrückung (der Arbeiter und Bauern), für die nationale Unterdrückung (der Ukrainer und Belorussen) und für die militärische Niederlage der Roten Armee im Jahre 1920.

 

In den 1930er Jahren ließen die Machthaber der Sowjetunion zehntausende Polen umbringen, die sich auf dem Gebiet der UdSSR aufhielten. Unter den Ermordeten befand sich fast das gesamte Parteiaktiv der Kommunistischen Partei Polens, die 1938 formal laut Beschluss der Kommunistischen Internationale aufgelöst wurde. Die Kommunisten Polens wurden beschuldigt, im Dienste des bürgerlichen Polens zu stehen. Umgekehrt wurden sie im Vorkriegspolen beschuldigt, im Dienste der UdSSR zu stehen, was ihnen mehrjährige Haftstrafen einbrachte. Der Mord von Katyn, die Erschießung von über 20.000 gefangen gehaltenen polnischen Offizieren im Jahre 1940, war das symbolische Urteil, durch dessen Vollzug das „Herrenpolen“ niemals wieder sich erheben sollte. Begünstigt werden sollte dieses Vorhaben durch die Verschleppung hunderttausender Polen nach Sibirien. Unter den Verschleppten waren hauptsächlich Familien von Unternehmern, Grundbesitzern, Militärangehörigen und Beamten. Unter ihnen war auch Wojciech Jaruzelski. Charakteristisch war, dass Stalin niemals die Absicht hatte, auf den durch die Rote Armee besetzten Gebieten eine Polnische Sozialistische Sowjetrepublik ins Leben zu rufen. Die Polen, die von den Repressionen verschont wurden, hatten einfach nur gehorsame Bürger der UdSSR zu sein, entsprechend den damals in diesem Lande üblichen Gepflogenheiten.

Hitlerdeutschland verfolgte ganz wie die stalinsche Sowjetunion in erster Linie die polnische Intelligenz. Es waren Intellektuelle, die als erste nach Auschwitz transportiert wurden. Die physische Beseitigung der Intelligenz und die gleichzeitige Beseitigung des polnischen Schulwesens (vollständig in den an das Reich angeschlossenen Gebieten, ab Grundschule aufwärts im so genannten Generalgouvernement), sollte die Polen „entnationalisieren“. Die antipolnischen Handlungen der deutschen Okkupanten waren von 1939 bis 1945 wesentlich brutaler und rücksichtsloser als das, was im preußischen Teil während der Teilungen und später während der deutschen Okkupation im 1. Weltkrieg überhaupt denkbar gewesen wäre.

Trotz aller Ähnlichkeiten gab es grundlegende Unterschiede im Vorgehen der Hitlerdeutschen und der Stalinisten. Das betraf hauptsächlich das Verhältnis zur jüdischen Bevölkerung. Auch zu Zeiten der stärksten Repressionen in der UdSSR nahm die Verfolgung jüdischer Menschen niemals solche drastischen, sorgfältig und perfekt organisierten Formen an wie unter den Deutschen. Mehrere Millionen polnischer Juden wurden in Ghettos gesperrt, von denen aus sie anschließend in die Vernichtungslager transportiert wurden. Mehrere tausend polnische Juden, die 1939 vor den Hitlertruppen nach Osten flohen, konnten die Schrecken des Zweiten Weltkriegs überleben.

Im Ergebnis des Septembers 1939 wurde der polnische Staat beseitigt, das Judentum in Polen fast vollständig liquidiert, die polnische Nation, wie niemals zuvor in ihrer Geschichte, mit der vollständigen Vernichtung bedroht. Die Septemberniederlage versetzte den Polen einen gewaltigen Schock, denn sie waren viele Jahre lang überzeugt worden, dass das Land gut auf einen Krieg vorbereitet sei, für dessen Sicherheit zudem die Großmächte Frankreich und Großbritannien garantieren würden. Doch vom ersten Kriegstage an beherrschten die schwarzen Kreuze der Luftwaffe unangefochten den Himmel, von dem aus nicht nur militärische Objekte, sondern auch Kolonnen von Flüchtlingen, von Alten, Frauen und Kindern bombardiert wurden. Die Wehrmacht nahm rasch einen Landesteil nach dem anderen ein. Die Franzosen, wohl auch die Engländer, sahen keinen Grund, für „Danzig zu sterben“. Die Verbündeten überließen Polen den Angreifern - Deutschland und der Sowjetunion, die ihrerseits miteinander verbündet waren. Die Elite Polens, an der Spitze Regierung und Oberkommando, verhielt sich kaum anders, ließen sie doch die Bürger im Stich und flohen nach dem Einfall der Roten Armee über Rumänien in den Westen.

Im Schatten dieser im Ergebnis unabwendbaren Niederlagen und der Tragödien finden sich jedoch Tatsachen, an die zu erinnern lohnt. Polen war das erste Land, welches sich den Plänen Hitlerdeutschlands aktiv entgegenstellte. Die Westmächte schauten bei Hitlers Taten immer gerne weg: Die Besetzung der entmilitarisierten Zone im Rheinland, die Unterstützung für General Franco im spanischen Bürgerkrieg, der Anschluss Österreichs. Höhepunkt dieser Politik war das Münchner Abkommen, durch welches Hitlers Appetit auf weitere Eroberungen neuen Auftrieb bekam. Erstes Opfer wurde die Tschechoslowakei, die kaltblütig in wenigen Monaten von der Landkarte getilgt wurde. Polen gab der Erpressung des Dritten Reiches in Bezug auf einen exterritorialen Korridor nach Ostpreußen nicht nach, wagte als erstes Land militärischen Widerstand und zwang Großbritannien und Frankreich zur formalen Kriegserklärung an Deutschland, also zum Verzicht auf die bisherige Beschwichtigungspolitik.

Die polnische Armee führte an vielen Kriegsschauplätzen einen verbissenen Kampf mit den deutschen Angreifern. Zu Symbolen für die Septemberkämpfe wurden die Verteidigung der Westerplatte, die Schlachten bei Mława, an der Bzura, bei Kock, die heldenhafte Verteidigung Warschaus und die Verteidigung der Halbinsel Hel. Die Wehrmacht verlor etwa 16.000 Mann, ungefähr ein Tausend Panzer bzw. gepanzerte Fahrzeuge, fast 300 Flugzeuge. Die Deutschen hatten weitaus mehr Probleme, Polen niederzuringen, als 1940 dann eine Reihe westeuropäischer Länder. Die Einwohner Warschaus konnten Stolz auf ihre Haltung sein, ganz anders als die Franzosen, die ihre Hauptstadt Paris kampflos übergaben. Die Warschauer - obwohl durch die Regierung im Stich gelassen, die, die eigene Haut rettend, ins Ausland floh - verteidigten ihre Stadt heldenhaft.

Auch wenn Polens Regierung in den 1930er Jahren nach Berlin Signale der Sympathie versandte, auch wenn Polen an der Seite Hitlerdeutschlands einen grenznahen Teil der Tschechoslowakei annektierte, so kam ein Bündnis mit Hitler - auch ein gegen die UdSSR gerichtetes - niemals in Betracht. Vor dem Überfall auf Polen eroberte Hitler andere Länder, doch als Beginn des Zweiten Weltkriegs wird der Überfall auf Polen angesehen. Dieses stellte sich als erstes Land Hitler entgegen und bezahlte dafür einen hohen Preis, den höchsten in seiner jüngeren Geschichte.

 

Krzysztof Pilawski, einer der bekanntesten linksgerichteten Publizisten Polens. Er war 10 Jahre lang Korrespondent der linksgerichteten Tageszeitung „Trybuna“ in Russland. In jüngster Zeit regelmäßig Beiträge zur „Historischen Politik“ in Polen, Russland, in der Ukraine und in den drei baltischen Republiken.

 

 

 

Vom Bild des Zweiten Weltkriegs in Polen

 

Von Holger Politt

 

Wie lebendig die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs im heutigen Polen noch immer sind, bedarf keines Beweises. Jeder Besucher des Landes weiß darum und stößt - so er offene Augen hat und historischen Sinn mitbringt - unweigerlich auf die Spuren des Geschehens, welches vor 70 Jahren das Land und die in ihm wohnenden Menschen heimsuchte. Die Auswirkungen waren für alle schrecklich, für fast keinen, in welcher Form auch immer, hinnehmbar und für einen wichtigen, unschätzbaren Teil der Gesellschaft fast mit Garantie tödlich. Schaut man auf das zwanzigste Jahrhundert zurück, so findet sich in Europa kein zweites Land, welches solch ein barbarisches Okkupationsregime und einen solchen in Quantität und Gnadenlosigkeit irrsinnigen Opfergang erlebte.

Allein die Sowjetunion erlebte in ihren westlichen, zumeist europäischen Teilen nach dem Überfall durch Deutschland im Sommer 1941 die ans Schlachthaus gemahnende Fortschreibung des bereits an der Weichsel Angelegten. Dass die Rote Armee, die am Beginn des Zweiten Weltkriegs noch im Bunde mit der Wehrmacht die grausame Lawine ins Rollen brachte, zu einem der wichtigsten und entscheidenden Befreier des alten Kontinents vom Schrecken des Faschismus wurde, darf nie vergessen werden. Sie war es, die im Januar 1945 Auschwitz befreite, den Ort, mit dem die Nachwelt bis heute symbolhaft zu begreifen sucht, was zwischen September 1939 und Mai 1945 im Schatten der Okkupation an Demaskierung unserer Zivilisation, auf die wir gewöhnlich recht stolz sind, sich vollzog.

Als Deutscher, der erst viele Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, habe ich in den zurückliegenden Jahren in Polen erfahren, dass niemand mit den Fingern auf Deutsche zeigt. Auf einer Veranstaltung mit den Kindern des Holocausts, also mit Menschen, die vor der für sie durch die Okkupanten bestimmten sicheren Vernichtung gerettet wurden, gerettet durch ihre polnischen Nachbarn, durch Menschen wie Irena Sendler, sagte ich, dass an Orten wie Treblinka, Bełżec, Sobibor und Warschau ich ein zweites Mal gelernt habe, was Leben heißt. Ich brauchte nicht hinzuzufügen, dass ich es das erste Mal in der Sprache und im Geist von Goethe, Heine, Marx und der Brüder Mann gelernt hatte.

Fast täglich komme ich an einer Gedenktafel vorbei, die 40 ermordeter Polen gedenkt, die an dieser Stelle im November 1943 auf offener Straße hingerichtet wurden. Die Geschichte dazu fand ich bei Jarosław Iwaszkiewicz, der in seinem Tagebuch notierte:

„Im November 1943

Gestern war Wanda Telakowska bei uns und berichtete über eine Hinrichtung, die einige Tage früher vor ihrem Haus an der Ecke von Wawel- und Grójeck-Straße stattfand. Plötzlich wurde ihr bedeutet, dass das Haus von Gendarmen umstellt sei und dass sie niemanden aus dem Haus ließen. Sie dachte, es werde irgendeine Razzia und Revision der Wohnungen sein, und da sie einige Sachen bei sich hatte, die gefährlich werden konnten, begann sie zusammen mit dem Dienstmädchen diese Dinge zu beseitigen, zum Teil wurden sie verbrannt, zum Teil versteckt. Sie war dermaßen durch diese Tätigkeit eingenommen, dass sie sogar die Klänge der vor das Haus fahrenden Autos überhörte. Erst Schusssalven rissen sie aus der Arbeit. Sie dachte, Bewaffnete würden das Haus stürmen. Doch ihr fiel die Stille auf, die danach einsetzte. Schließlich entschied sie, aus dem Fenster zu blicken. Die Lastkraftwagen mit den Planen fuhren bereits ab. Sie konnte nicht sofort erfassen, was das bedeutete. Plötzlich aber sah sie, dass an der Hauswand bereits Blumen liegen und brennende Kerzen stehen. Das ist in dem gleichen Augenblick passiert, als die Lastkraftwagen mit den Tätern und den Opfern abgefahren waren. Erst jetzt bemerkte sie, dass es eine Hinrichtung gewesen war. Aus den umliegenden Geschäften kamen Leute mit Kerzen und Grünzeug, aus irgendwelchen Wohnungen wurden Blumen gebracht. Andere knieten vor der mit Blut befleckten Hauswand, an der die Einschüsse zu sehen waren. In diesem Auganblick kam eine Gendarmen-Streife vorbei, die damit begann, die betenden Menschen zu vertreiben, indem mit den Gewehrkolben auf sie eingeschlagen wurde; die Gendarmen warfen die Blumen und das Grün weg, traten mit ihren Stiefeln die Kerzen aus. Vom nahe gelegenen deutschen Krankenhaus näherten sich zwei barmherzige Schwestern mit dem Zeichen des Roten Kreuzes. Sie sahen die Szene der durch die Gendarmen vertriebenen Menschen, gingen beiseite und konnten sich vor Lachen kaum halten. Eine Kulisse für den kommenden Goi.“

 

Aus: Jarosław Iwaszkiewicz, Dzienniki 1911-1955. Warschau 2007. S. 242