Lebendige Nachbarschaft
Gedanken zu einem jetzt erschienenen Buch
Es gibt Bücher, die man nach
kurzem Lesen zur Seite legt und meint, da schaue ich später noch mal ´rein. Das
Thema weckt zwar Interesse, aber was man dann zu Lesen bekommt, erscheint
langweilig.
Im vorliegenden Buch „Gelebte
Nachbarschaft“ - so steht es auf dem Titel - und auf der Innenseite ergänzend
„Gelebte deutsch-polnische Nachbarschaft“, hat sich eine Autorengemeinschaft
bemüht, diese Schlagzeile vielfältig zu illustrieren. Dieses 300 Seiten
umfassende Paperback, herausgegeben von der „Gesellschaft für gute
Nachbarschaft zu Polen“, der in Berlin und Umgebung wirkende Regionalverband
der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland e. V., kommt
zu einem günstigen Zeitpunkt heraus. Einmal jährt sich in wenigen Tagen zum 70.
Male der verbrecherische Überfall
Hitler-Deutschlands auf die Republik Polen, der als der Beginn des II.
Weltkrieges gilt. Zum anderen greift er mittelbar in die unsägliche Diskussion
um das „Vertriebenenzentrum“ ein. Aber zum Weiteren könnte sich diese
Publikation in die erfreulichen Anstrengungen einreihen, die Polen und die
Bundesrepublik gegenwärtig unternehmen, um die in letzter Zeit entstandenen
Unstimmigkeiten abzubauen. Zugleich ist dieses Buch auch dem 60. Jahrestag der
Gründung der Hellmut-von-Gerlach-Gesellschaft (19.8.1948) gewidmet.
28 Autoren versuchen
darzustellen, wie sie die Nachbarschaft zu Polen und den Menschen jenseits von Oder und Neiße mitgestalteten,
erlebten und beurteilen. Sie versuchen, die Behauptung von der „verordneten
Freundschaft der DDR zu Polen“ zu entkräften. Wer die in diesem Buch
beschriebenen Erinnerungen liest, bemerkt eine ganz andere Seite. Zwar mögen
bestimmte Aktivitäten zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR gelenkt
gewesen sein, aber vor allem auf den so genannten „unteren Ebenen“ haben sich
Verständnis, vielfach gleiche Auffassungen und auch Freundschaften entwickelt.
So beschreiben viele Autoren ihre persönlichen Kontakte, wie sie durch
berufliche, sportliche, kulturelle oder persönliche Begegnungen über viele
Jahre begannen und reiften; manchmal trotz anderer Ansichten und Meinungen.
Zwar sind die Motive nicht immer formvollendet zu Papier gebracht und wirken manchmal
etwas steif, aber man merkt, dass die Gedanken mit Herzblut geschrieben sind.
Für viele von Ihnen bestimmten
die Begegnungen mit unserem Nachbarn ihren weiteren Lebensweg. Allesamt haben
die Autoren in der DDR gelebt, ihren Beruf erlernt, studiert und meist sind
über diesen Weg Kontakte zum polnischen
Nachbarn entstanden. Die zeitweilig günstigen Bedingungen haben diesen
Prozess gefördert, wie aus den einzelnen Erzählungen sichtbar wird.
Das Buch selbst ist in drei
Abschnitte unterteilt. Der erste, etwas schwergewichtige politische Teil,
befasst sich mit den Anfängen der deutsch-polnischen Beziehungen, wie schwierig
es nach 1945 war, behutsam mit kleinsten Schritten eine vorsichtige Annäherung
zu erreichen; welche Vorbehalte und Hemmnisse es diesseits und jenseits von
Oder und Neiße gab - und manchmal auch heute noch gibt.
Dieser Teil des Buches erscheint
etwas zu langatmig; eine Kürzung hätte diesem Abschnitt gut getan. Allerdings
ist ein Beitrag hier hervorzuheben: die aufreibende Situation, um von Polen
eine Zustimmung zur Einheit Deutschlands 1989/90 zu erlangen und welche
Hemmnisse es in diesem Prozess von der Politik in Ost und West zu überwinden
galt. Detailliert sind die politischen und diplomatischen Rangeleien um die
endgültige Festlegung der polnischen Westgrenze beschrieben, nicht nur die
konträren Auffassungen zwischen BRD, DDR und Republik Polen, sondern auch mit
den Siegermächten.
Den größten Teil des Buches
nehmen die Erlebnisberichte ein, die in anschaulicher, nachdenklicher Weise
verfasst wurden. Unterschiedliche Sichtweisen werden deutlich. Allen ist
gemeinsam, wie der jeweilige Verfasser zu einem guten, verständnisvollen und
freundschaftlichen Verstehen mit polnischen Menschen kam, warum und wie ihm das
zur Herzenssache geworden ist. Ausgespart werden dabei nicht die traurigen
Erinnerungen beider Völker aus der Zeit vor und nach 1945. Einige
Niederschriften sind manchmal etwa holprig; aber nicht jeder ist ein
vollendeter Formulierungskünstler. Auch doppeln sich verschiedentlich Verweise
auf historische Fakten. Hier hätte ein Lektorat eingreifen müssen, um solche
Dinge zu korrigieren.
Der letzte Teil des Buches
„Radfahrergeschichten“, der eigentlich mit zu den Erlebnisberichten zählt,
berichtet in lebendiger Art und Weise über eine besondere Aktivität der
„Gesellschaft für gute Nachbarschaft zu Polen“, die seit 15 Jahren regelmäßig
gestarteten Radwandertouren. Radsportler und größtenteils Amateure unternehmen
alljährlich eine mehrtägige Fahrt ins polnische Nachbarland. Und darüber gibt es
viel zu erzählen, was in diesem Buch geschieht. Radweltmeister und zweimaliger
Friedensfahrtsieger „Täve“ Schur fühlt sich mit diesen „Rittern der
Landstraße“, wie er in einem Beitrag schreibt, eng verbunden. Diese und viele
andere Erlebnisse, Geschichten und Gedanken werben für die deutsch-polnische
Verständigung. Und so will diese Publikation - wie ein Autor schreibt - dazu
beitragen, „über die Verbreitung von Kenntnissen, gegenseitigem Verständnis und
persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen unserer Länder“ zu einer
Meinungsbildung zu gelangen.
Wolfhard Besser
Gelebte
Nachbarschaft, Scheunen-Verlag, 18317 Kückenshagen, Kolonie 4, Email:
info@scheunen-verlag.de, ISBN-Nr. 978-3-938398-84-5. Das Buch ist zu bestellen
beim Verlag für 14,90 €